CARL KOCH
Kopf eines Narren, gezeichnet von Hans Baldung-Grien
Die lebensgroße Kohlezeichnung eines Narrenkopfes (Abb. 1), welche sich einst in der
Liechtenstein-Sammlung in Wien befand1, wurde von Meder2 im Jahre 1898 als ein
Werk von Hans Baldung veröffentlicht. Trotz dieser Zuschreibung aber fand das hoch-
bedeutende Blatt in der gesamten anschließenden Literatur keine Berücksichtigung3,
offenbar weil es formal und technisch so extreme Eigenschaften aufweist, daß es sich
sehr schwer an eine anerkannte Baldung-Zeichnung anreihen läßt.
Die unheimliche Narrenphysiognomie ist bestimmt durch die tierisch vorgestülpten,
fleischigen Lippen des geöffneten Mundes, die merkwürdig abwärts vorstoßende Nase,
das schwindende Kinn und den stechenden Blick der Augen. Der Gesichtskontur des
fast ins Profil gewendeten Kopfes ist mit zartestem Kohlestrich umrissen und ein zittri-
ger Strich charakterisiert auch Umriß und Modellierung des wie schleimhäutig wirken-
den Lippenpaares. Zu meiner jetzigen Überzeugung, daß das Blatt eine Originalzeichnung
Baldungs ist und als eine schärfsten Realismus erstrebende Studie unter die Blätter der
reifen Freiburger Zeit gehört, gelangte ich erst spät. Wichtig ist es, zu bemerken, daß sich
neben der überraschend fleischig stofflichen Wiedergabe der Gesichtszüge die kraftvolle
Linienführung Baldungs in den starken Umrißlinien der den Kopf umschließenden Kappe
und in dem energisch knappen Schnitt der Augenpartie deutlich Bahn bricht. Hier tritt
eine enge stilistische Verwandtschaft mit dem Kopf des bärtigen, rundschädligen Mannes
(K 49) von etwa 1516 zutage. Ja, selbst zwischen dem Saturn von 1516 (K 48) und dem
Narrenkopf scheint mir eine innere Verwandtschaft zu bestehen durch das Bestreben,
eine Vorstellung extrem zu gestalten, wenn es sich bei dem Saturn auch um einen er-
schöpfend durchgebildeten Charaktertyp, bei dem Narrenkopf dagegen um eine aus-
drucksmäßig gesteigerte Naturwiedergabe handelt4. Durch die Handhabung der Kohle,
1 Sie gehört jetzt Dr. Edmund Schilling in London. Ich stimme seiner Beurteilung zu, daß das
Material der Zeichnung Kohle ist, die in den erhaltenen Baldung-Zeichnungen sonst nicht
verwendet wird. Die Maße des Blattes sind: 26,5 x18,9 cm.
2 Schönbrunner-Meder, Handzeichnungen alter Meister aus der Albertina und anderen Samm-
lungen, Wien 1896-1908, Bd. III, Nr. 253. Meder macht darauf aufmerksam, daß die Zeich-
nung bereits 1649 in dem Inventar des Erzherzogs Leopold Wilhelm von Österreich verzeichnet
steht. Die Signatur beurteilt er als echt. Eine chronologische Ansetzung nimmt er nicht vor.
3 Auch ich konnte mich nicht entschließen, die Zeichnung in meine Publikation: Die Zeich-
nungen Hans Baldung-Griens, Berlin 1941, aufzunehmen, wobei ich hinzufügen muß, daß
es mir damals infolge der Kriegsumstände nicht möglich war, eine nochmalige gründliche
Prüfung des Originals vorzunehmen.
4 Die Narrenzeichnung müßte in meiner Publikation der Baldung-Zeichnungen von 1941 als
Kat.-Nr. 49 a eingereiht werden.
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Kopf eines Narren, gezeichnet von Hans Baldung-Grien
Die lebensgroße Kohlezeichnung eines Narrenkopfes (Abb. 1), welche sich einst in der
Liechtenstein-Sammlung in Wien befand1, wurde von Meder2 im Jahre 1898 als ein
Werk von Hans Baldung veröffentlicht. Trotz dieser Zuschreibung aber fand das hoch-
bedeutende Blatt in der gesamten anschließenden Literatur keine Berücksichtigung3,
offenbar weil es formal und technisch so extreme Eigenschaften aufweist, daß es sich
sehr schwer an eine anerkannte Baldung-Zeichnung anreihen läßt.
Die unheimliche Narrenphysiognomie ist bestimmt durch die tierisch vorgestülpten,
fleischigen Lippen des geöffneten Mundes, die merkwürdig abwärts vorstoßende Nase,
das schwindende Kinn und den stechenden Blick der Augen. Der Gesichtskontur des
fast ins Profil gewendeten Kopfes ist mit zartestem Kohlestrich umrissen und ein zittri-
ger Strich charakterisiert auch Umriß und Modellierung des wie schleimhäutig wirken-
den Lippenpaares. Zu meiner jetzigen Überzeugung, daß das Blatt eine Originalzeichnung
Baldungs ist und als eine schärfsten Realismus erstrebende Studie unter die Blätter der
reifen Freiburger Zeit gehört, gelangte ich erst spät. Wichtig ist es, zu bemerken, daß sich
neben der überraschend fleischig stofflichen Wiedergabe der Gesichtszüge die kraftvolle
Linienführung Baldungs in den starken Umrißlinien der den Kopf umschließenden Kappe
und in dem energisch knappen Schnitt der Augenpartie deutlich Bahn bricht. Hier tritt
eine enge stilistische Verwandtschaft mit dem Kopf des bärtigen, rundschädligen Mannes
(K 49) von etwa 1516 zutage. Ja, selbst zwischen dem Saturn von 1516 (K 48) und dem
Narrenkopf scheint mir eine innere Verwandtschaft zu bestehen durch das Bestreben,
eine Vorstellung extrem zu gestalten, wenn es sich bei dem Saturn auch um einen er-
schöpfend durchgebildeten Charaktertyp, bei dem Narrenkopf dagegen um eine aus-
drucksmäßig gesteigerte Naturwiedergabe handelt4. Durch die Handhabung der Kohle,
1 Sie gehört jetzt Dr. Edmund Schilling in London. Ich stimme seiner Beurteilung zu, daß das
Material der Zeichnung Kohle ist, die in den erhaltenen Baldung-Zeichnungen sonst nicht
verwendet wird. Die Maße des Blattes sind: 26,5 x18,9 cm.
2 Schönbrunner-Meder, Handzeichnungen alter Meister aus der Albertina und anderen Samm-
lungen, Wien 1896-1908, Bd. III, Nr. 253. Meder macht darauf aufmerksam, daß die Zeich-
nung bereits 1649 in dem Inventar des Erzherzogs Leopold Wilhelm von Österreich verzeichnet
steht. Die Signatur beurteilt er als echt. Eine chronologische Ansetzung nimmt er nicht vor.
3 Auch ich konnte mich nicht entschließen, die Zeichnung in meine Publikation: Die Zeich-
nungen Hans Baldung-Griens, Berlin 1941, aufzunehmen, wobei ich hinzufügen muß, daß
es mir damals infolge der Kriegsumstände nicht möglich war, eine nochmalige gründliche
Prüfung des Originals vorzunehmen.
4 Die Narrenzeichnung müßte in meiner Publikation der Baldung-Zeichnungen von 1941 als
Kat.-Nr. 49 a eingereiht werden.
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