Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0035
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Der heilige Bernhard.

27

gleiche Zärtlichkeit. So fliegen von beiden Seiten die
Worte süßer als Honig, schweben die von Wonne ganz
erfüllten Blicke. Endlich heißt er sie Freundin, nennt
sie die Schöne, wiederholt es und hört das gleiche von
ihr. Wahrlich eine erhabene Schauung, in welcher die
Seele zu dem Grade von Zutrauen und wiederum von
Geltung erhoben wird, daß sie Jesus, den Herrn aller
Dinge als Herrn nicht mehr kennt, sondern nur noch
als Geliebten“. Ja, Bernhard gesteht es ausdrücklich,
daß diese Liebe zum Gottmenschen in gewisser Bezie-
hung sinnlich bestimmt sein soll: „Bemerke, daß die
Herzensliebe gewissermaßen fleischlich ist, weil sie mehr
auf das Fleisch Christi sich richtet und weil das, was
Christus im Fleisch tat und anordnete, das menschliche
Herz ergreift. Von dieser Liebe erfüllt, wird es leicht
zu allem derartigen Gespräch angestachelt“
Wenn so die Leidenschaft zu Jesus den Trieb nach
den Gütern der Welt und ihrem Sinnengenuß vernichtet
hat, gewinnt die letzte Macht der Liebe Geltung: Die
sinnliche Intuition des sich erniedrigenden Gottes steigert
sich zur Ekstase, zur bildlosen geistig’en Versenkung
und Vereinigung mit Gott.
Es ist eine psychologische Steigerung dieses sinn-
lich-religiösen Prozesses, daß der mystische Schwärmer
sich Christus meist in der Krippe oder am Kreuz vor-
stellt. Gott muß hilfsbedürftig sein, wenn wir ihn lieben
sollen, sagt einmal Novalis. Der Mystiker liebt, sich
seinen Gott sehr hilfsbedürftig- vorzustellen. Und die
mystische Vereinigung wird um so inniger, als Gott ja
gerade aus Liebe zu ihm diese Hilflosigkeit auf sich
nahm: „Man durchbohrte seine Hände und Füße und
durchstach seine Seite mit der Lanze, und durch diese
Spalten ist mir gestattet, den Honig aus dem Felsen
zu saugen und Öl aus dem harten Stein, das heißt, ich
darf schmecken und sehen daß der Herr süß ist. Offen-
 
Annotationen