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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0085
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Brockes’ „Religiosität“.

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Schaden werden gründlich und nüchtern aufgezählt und
abgewogen, und trotz aller Schwierigkeiten weiß er
zuletzt doch stets die Notwendigkeit und Nützlichkeit
herauszuklauben. Auch die Krankheiten werden bei
ihm „eine bewundrungswürdige Erfindung“, und selbst der
Tod ist eine gute Sache: „Bloß allein vom Leben nur —
Ist der Tod ein Gegensatz, aber nicht von der Natur“.
Den Sechzigjährigen drängt es, sich und aller Welt zu be-
weisen und zu „zeigen, daß fast jedermann — Nach einem
irdischen Vergnügen zuletzt vergnügt auch sterben kann“.
Das ist die Religion dieses Sinnenmenschen. Alle
theologischen Probleme sind ihm im Grunde gleich-
gültig. Und darum ist es nicht weiter wunderlich, daß
er im weitesten Sinne tolerant ist, so tolerant, daß
Hermann Samuel Reimarus, sein Jugendlehrer, ihn in
den engen Kreis seiner Vertrauten ziehen und ihm
seine „Abhandlungen über die vornehmsten Wahrheiten
der natürlichen Religion“ im Manuskript mitteilen konnte.
Gewiß, ihm mußte alles Gezänk der Orthodoxen wider-
wärtig sein, nicht, weil er eine Stellung über, sondern
außerhalb von ihnen hatte. Diese theoretischen Streitig-
keiten banden den Menschen und hielten ihn von der
einzig wichtigen Pflege und Verehrung der Sinne zurück.
In dieser Einseitigkeit des Sinnenmenschen aber
wurde Brockes der Entwicklung der Persönlichkeit und
der deutschen Lyrik bedeutsam. Hatte Günthers Leben
dem Deutschland seiner Zeit zugerufen: „Dein Herz ist
tot!“ so galt ihm Brockes’ Weckruf: „Dein Sinn ist zu!“
In der Befreiung der Sinne, der Erweckung der künstle-
rischen Anschaulichkeit, in der liebenden Entdeckung
und Bejahung der Natur liegt Brockes’ Bedeutung. Und
auch stilistisch hat er gleich Günther durch die Abkehr
vom Alexandriner, durch die Mannigfaltigkeit und Ge-
löstheit seiner Versmaße, durch den Reichtum seiner
Worte und Wortbildungen befreiend gewirkt.
 
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