Die Lehrgedichte.
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Ihr Wälder, wo kein Licht durch finstre Tannen strahlt,
Und sich in jedem Busch die Nacht des Grabes malt;
Ihr hohlen Felsen dort, wo im Gesträuch verirret
Ein trauriges Geschwärm einsamer Vögel schwirret;
Ihr Bäche, die ihr matt in dürren Angern fließt
Und den verlornen Strom in öde Sümpfe gießt;
Erstorbenes Gefild und grausenvolle Gründe,
O daß ich doch bei euch des Todes Farben fünde!
Die Schauer dieser Landschaft führen die dunklen Ge-
danken an ewige Rätsel von selber herauf.
Wie aber kommt es, daß Haller trotz der Erhaben-
heit seines Wollens, trotz der Sicherheit seiner Einsicht
diese Verbindung von Sinnlichkeit und Idee nicht er-
reicht hat, daß seine Gedichte uns nicht mehr lebendig
sind, daß wir sie im üblen Sinne als Lehrgedichte emp-
finden, daß wir scharf und nachdrücklich Schillers
Urteil wiederholen, Haller lehre mehr als er darstelle?
Wir stoßen auf ein Problem, das gerade hier besonders
groß sich aufdrängt, weil Haller nach den äußersten
Polen der Sinnlichkeit, der Idee gegriffen, um sie zu-
sammenzuzwingen. Leicht können wir feststellen, daß
er sie nur nebeneinander, nicht ineinander gezwungen
hat. Wir können darauf hinweisen, daß diese restlose
Vereinigung nicht in der Erkenntnis möglich ist, sondern
nur im Erlebnis. Aber dann steht die Frage vor uns:
Was ist denn Erlebnis? Ist es das einzelne, außer-
gewöhnliche Ereignis im Leben des Künstlers? Gewiß
nicht, denn wir wissen, daß ein Dichter z. B. von den
Empfindungen eines Mörders tiefer und notwendiger
Rechenschaft zu geben weiß als der Mörder selber. Es
ist nicht das einzelne Erlebnis, sondern das gesamte
Erleben des Künstlers, um das es sich handelt. Und
hier liegt der letzte Grund: Hallers Leben und Erleben
war nicht das des Künstlers, sondern das des Ge-
lehrten. .
Schon einmal sind wir dem Gelehrten in der deut-
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Ihr Wälder, wo kein Licht durch finstre Tannen strahlt,
Und sich in jedem Busch die Nacht des Grabes malt;
Ihr hohlen Felsen dort, wo im Gesträuch verirret
Ein trauriges Geschwärm einsamer Vögel schwirret;
Ihr Bäche, die ihr matt in dürren Angern fließt
Und den verlornen Strom in öde Sümpfe gießt;
Erstorbenes Gefild und grausenvolle Gründe,
O daß ich doch bei euch des Todes Farben fünde!
Die Schauer dieser Landschaft führen die dunklen Ge-
danken an ewige Rätsel von selber herauf.
Wie aber kommt es, daß Haller trotz der Erhaben-
heit seines Wollens, trotz der Sicherheit seiner Einsicht
diese Verbindung von Sinnlichkeit und Idee nicht er-
reicht hat, daß seine Gedichte uns nicht mehr lebendig
sind, daß wir sie im üblen Sinne als Lehrgedichte emp-
finden, daß wir scharf und nachdrücklich Schillers
Urteil wiederholen, Haller lehre mehr als er darstelle?
Wir stoßen auf ein Problem, das gerade hier besonders
groß sich aufdrängt, weil Haller nach den äußersten
Polen der Sinnlichkeit, der Idee gegriffen, um sie zu-
sammenzuzwingen. Leicht können wir feststellen, daß
er sie nur nebeneinander, nicht ineinander gezwungen
hat. Wir können darauf hinweisen, daß diese restlose
Vereinigung nicht in der Erkenntnis möglich ist, sondern
nur im Erlebnis. Aber dann steht die Frage vor uns:
Was ist denn Erlebnis? Ist es das einzelne, außer-
gewöhnliche Ereignis im Leben des Künstlers? Gewiß
nicht, denn wir wissen, daß ein Dichter z. B. von den
Empfindungen eines Mörders tiefer und notwendiger
Rechenschaft zu geben weiß als der Mörder selber. Es
ist nicht das einzelne Erlebnis, sondern das gesamte
Erleben des Künstlers, um das es sich handelt. Und
hier liegt der letzte Grund: Hallers Leben und Erleben
war nicht das des Künstlers, sondern das des Ge-
lehrten. .
Schon einmal sind wir dem Gelehrten in der deut-