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Haller.
so drängt seine Selbstverleugnung, sein Opfer an das
Allgemeine — soweit das Gefühl in Betracht kommt —
in die religiöse Richtung seiner Kindheit. Es ist er-
schütternd und quälend, in den Tagebüchern zu lesen,
die Haller mit dem Tode seiner Frau begann. Alles
Selbstgefühl ist getilgt, vernichtet, verleugnet, ja ver-
flucht und gehaßt. Ein Sturm der Zerknirschung und
Selbsterniedrigung wütet hier, der alles verschlingt:
„Wo ist jetzt die Seele meiner verewigten Frau? Ach,
welch ein Unterschied! Entweder leidet sie unaussprech-
liche Verzweiflung in einer Einöde, oder in der Gesell-
schaft böser Geister; oder sie preiset Gott mit unsäg-
licher Entzückung in Gemeinschaft der auserwählten
Seelen und der guten Engel. Tut sie es nicht, so ist
es großenteils meine Schuld. Und das sollte mich nicht
rühren, ich sollte nicht weinen?“ „Wo werde ich hin-
fliehen, wenn Gott einst Rechenschaft von mir fordern
wird?“ „Ein stiller Morgen. Aber mich dünkt nur aus
kindischer, zeitlicher Hoffnung und nicht aus dem wahren
Grunde, der in Ewigkeit tröstet! Ich kenne meinen
Leichtsinn und sonderlich meinen Hochmut und gloriam
ingenii je länger je besser. Gott lehre mich, mich selbst
zu überwinden.“ Und fünf Jahre später, als nach kaum
einjähriger Ehe seine zweite Frau starb — er schrieb
auch auf ihren Tod ein Gedicht, aber welch ein Ge-
dicht: man merkt, daß es nur geschrieben, damit die
erste Frau vor der zweiten nichts voraus habe — als
auch der Sohn, dessen Geburt ihr das Leben gekostet,
ihr nachstarb, da schreibt er: „Du hast mich wieder
heimgesucht, mein Vater! Du hast mir ein einziges,
liebes und hoffnungsvolles Pfand meiner ehelichen Liebe
entrissen. Im Zeitlichen hast du mich auch eines großen
Teils des Meinigen entblößt. Gelobet sei dein Name! —
Demütige o Gott dieses in sich selbst verliebte Herz;
reiß die Larve von meinem Gemüte, daß ich die Falsch-
Haller.
so drängt seine Selbstverleugnung, sein Opfer an das
Allgemeine — soweit das Gefühl in Betracht kommt —
in die religiöse Richtung seiner Kindheit. Es ist er-
schütternd und quälend, in den Tagebüchern zu lesen,
die Haller mit dem Tode seiner Frau begann. Alles
Selbstgefühl ist getilgt, vernichtet, verleugnet, ja ver-
flucht und gehaßt. Ein Sturm der Zerknirschung und
Selbsterniedrigung wütet hier, der alles verschlingt:
„Wo ist jetzt die Seele meiner verewigten Frau? Ach,
welch ein Unterschied! Entweder leidet sie unaussprech-
liche Verzweiflung in einer Einöde, oder in der Gesell-
schaft böser Geister; oder sie preiset Gott mit unsäg-
licher Entzückung in Gemeinschaft der auserwählten
Seelen und der guten Engel. Tut sie es nicht, so ist
es großenteils meine Schuld. Und das sollte mich nicht
rühren, ich sollte nicht weinen?“ „Wo werde ich hin-
fliehen, wenn Gott einst Rechenschaft von mir fordern
wird?“ „Ein stiller Morgen. Aber mich dünkt nur aus
kindischer, zeitlicher Hoffnung und nicht aus dem wahren
Grunde, der in Ewigkeit tröstet! Ich kenne meinen
Leichtsinn und sonderlich meinen Hochmut und gloriam
ingenii je länger je besser. Gott lehre mich, mich selbst
zu überwinden.“ Und fünf Jahre später, als nach kaum
einjähriger Ehe seine zweite Frau starb — er schrieb
auch auf ihren Tod ein Gedicht, aber welch ein Ge-
dicht: man merkt, daß es nur geschrieben, damit die
erste Frau vor der zweiten nichts voraus habe — als
auch der Sohn, dessen Geburt ihr das Leben gekostet,
ihr nachstarb, da schreibt er: „Du hast mich wieder
heimgesucht, mein Vater! Du hast mir ein einziges,
liebes und hoffnungsvolles Pfand meiner ehelichen Liebe
entrissen. Im Zeitlichen hast du mich auch eines großen
Teils des Meinigen entblößt. Gelobet sei dein Name! —
Demütige o Gott dieses in sich selbst verliebte Herz;
reiß die Larve von meinem Gemüte, daß ich die Falsch-