26
Die Mystiker.
in natürlicher Steigerung, daß sich der Fromme immer
leidenschaftlicher, immer einsamer zu Gott flüchtet, nicht
nur aus der Welt, aus der Unruhe, dem Außen der
Dinge, auch aus dem drückenden Nahgefühl der Ge-
meinde, um Gott ganz eigen gegenüber zu stehen von
Angesicht zu Angesicht, um zuletzt mit ihm eins zu
werden. Und dieses leidenschaftlich individuelle Ver-
hältnis zu Gott, diese persönlichste Sehnsucht und Liebe
des Mystikers ist es, die der katholischen Kunst schon
früh ihr Bestes schenkte. Sie gab dem religiösen Emp-
finden die sinnliche Grundlage, die ihm ermöglichte, das
Überirdische in irdischen Bildern auszudrücken, sie gab
ihm Bedürfnis und Vermögen, die alten Symbole immer
reicher zu gestalten, immer neue Symbole heranzuziehen.
Gewiß ergab sich dabei häufig eine Verwischung der
Grenzen, eine Verquickung von Religion und Sinnlich-
keit, die uns unangenehm oder süßlich dünkt.
Für die Lyrik war im Hohenlied das Muster dieser
Kunstart gegeben. Der heilige Bernhard hat seiner
allegorischen Auslegung und kirchlichen Benutzung
zuerst die religiös so höchst einflußreiche Wendung
gegeben, daß er die Braut Christi nicht mehr als die
Kirche, sondern als die einzelne Seele deutet. Und
gleich bei ihm sprengt die mystische Sehnsucht nach
Vereinigung alle Schranken der Erhabenheit: „Die Seele
liebt glühend, welche so von der eigenen Liebe trunken
wird, daß sie auf die Majestät nicht achtet. O welche
Gewalt der Liebe, welches Zutrauen im Geiste der Frei-
heit! Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus --
Gegenwärtig ist der Geliebte, entfernt wird der Meister,
der König verschwindet, die Würde ist ausgezogen,
die Ehrfurcht wird abgelegt. Zwischen dem Wort Gottes
und der Seele wird wie zwischen zwei Nachbarn einer sehr
vertrauten Zwiesprach gepflogen. Aus dem einen Quell
der Liebe fließt in jeden die gegenseitige Liebe, die
Die Mystiker.
in natürlicher Steigerung, daß sich der Fromme immer
leidenschaftlicher, immer einsamer zu Gott flüchtet, nicht
nur aus der Welt, aus der Unruhe, dem Außen der
Dinge, auch aus dem drückenden Nahgefühl der Ge-
meinde, um Gott ganz eigen gegenüber zu stehen von
Angesicht zu Angesicht, um zuletzt mit ihm eins zu
werden. Und dieses leidenschaftlich individuelle Ver-
hältnis zu Gott, diese persönlichste Sehnsucht und Liebe
des Mystikers ist es, die der katholischen Kunst schon
früh ihr Bestes schenkte. Sie gab dem religiösen Emp-
finden die sinnliche Grundlage, die ihm ermöglichte, das
Überirdische in irdischen Bildern auszudrücken, sie gab
ihm Bedürfnis und Vermögen, die alten Symbole immer
reicher zu gestalten, immer neue Symbole heranzuziehen.
Gewiß ergab sich dabei häufig eine Verwischung der
Grenzen, eine Verquickung von Religion und Sinnlich-
keit, die uns unangenehm oder süßlich dünkt.
Für die Lyrik war im Hohenlied das Muster dieser
Kunstart gegeben. Der heilige Bernhard hat seiner
allegorischen Auslegung und kirchlichen Benutzung
zuerst die religiös so höchst einflußreiche Wendung
gegeben, daß er die Braut Christi nicht mehr als die
Kirche, sondern als die einzelne Seele deutet. Und
gleich bei ihm sprengt die mystische Sehnsucht nach
Vereinigung alle Schranken der Erhabenheit: „Die Seele
liebt glühend, welche so von der eigenen Liebe trunken
wird, daß sie auf die Majestät nicht achtet. O welche
Gewalt der Liebe, welches Zutrauen im Geiste der Frei-
heit! Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus --
Gegenwärtig ist der Geliebte, entfernt wird der Meister,
der König verschwindet, die Würde ist ausgezogen,
die Ehrfurcht wird abgelegt. Zwischen dem Wort Gottes
und der Seele wird wie zwischen zwei Nachbarn einer sehr
vertrauten Zwiesprach gepflogen. Aus dem einen Quell
der Liebe fließt in jeden die gegenseitige Liebe, die