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1162

™ Dem Kanzler.

urch weichen, dichten Alockenfall
Verkündet aus metall'nem Munde
Dev Glocken Halb erstickter Kall
Die ernste mitternächt'ge Stunde,

And durch das Schweigen ringsumger
Mufschwingt sich zu dev Tßrone Stufen
Mus tausend Kerzen kummerschwer,

Mus tausend Kerzen Hoffnungsleev
Ein flößendes, ein Langes Rufen.

Es ist ein Schrei der tiefsten Kotß
And soll er ungeßört verklingen?

Die könne» für das schwarze Brot
Den Meis nicht länger mehr erschwingen.
Die kauern fröstelnd oßne Licht
Mn ihrem fcuerlosen Kcrde,

And wenn ein Mund das Schweigen bricht,
So fragt er, ob der Staat sich nicht
Erbarmen ihres Elends werde.

Das letzte Fünkchen Muth erlischt
And sie sind doch gewöhnt ans Darben:
Schon von des Kindes Wange wischt
Die Roth hinweg die zarten Farven.

Die Welt hat ihnen klar gemacht:

„Trotz all dem gold'nen Erntesegen,

Der dir im Kerbst entgegenlacht,

Wirst hungernd du so manche Kacht
Zu kurzem Schlaf dich niederlegen J“

Dev arme, hungernde Kelot

Kann schweigend leiden nur und trauern,

Vernehmlich aber spricht die „VotlZ"

Des Junkers und des großen Bauern.
And nagt der Kunger allzuscharf,

So mag der Käusler fleißig beten
In dem, der ihn darniedcrwarf,

Denn seines Staates Stützen darf
Der Kanzler nicht zu nahe treten.

g- : -----

Er fürchtet, daß der Treuen Sinn
Ein rascher Schritt von ihm verletze;

Sie murren ja schon ohnehin,

Weil er herab die Zölle sehe.

And doch — es war' mit einem Schlag
Der Junker Widerstand zu brechen:

Der Kanzler, der so viel vermag,

Er brauchte nur am ersten Tag

Des Jahrs ein kleines Wort zu sprechen.

Kimm ihr Geschimpfe in den Kauf
And stampf' es unter deine Sohle,

Doch — löse diesen Reichstag auf
And mach' den Zoll zur Wahlparole!

Wie Spreu, in die der Kerbstwind fährt,
Wird deiner Gegner Schaar verschwinden,
Dir wird ein Ruhm, dev nie verjährt
Beim Volke, das von Brot sich nährt,
Doch-wirst du die Lourage finden?

Berlin, zu Neujahr.

Lieber Jacob!

Nu is wieder 'mal eeu Jahr verfangen, sagte der Mann, wie er een
Bad nahm. Een Jahr is wieder in den Zeitenschooß rinjesenkelt, von wo
et bekanntlich keen Wiederkommen jiebt. Aber darum keene Feindschaft »ich,
wenn ick Mccster von de Zeitrechnung wäre, ick ließe alle Jungfern immer
in dct anjenehine Alter so zwischen siebzehn und »einzig. Aber ieber so'n
richtijen Silvester jeht doch nischt. Zwar ick hänge mir nu jrade nich nach
die Fannknchen uff, ooch de Mohnpielen, ohne die et vor den richtijen
Berliner jar keene Neijahrsfeier jiebt, versetzen mir nich in höhere Exstase,
indem meine Magenverhältnisse vor det Zeich nich injericht't sind, ooch ob
de Fische ville Roch haben, is mir janz tnhtmehmschose — ick halte mir
mehr an den Jrogk, indem ick davon eene janze Ecke verposamentiren kann,
un wenn ick denn 'ne orndtliche Jiftnudel habe, denn ricke ick mir in meine
Ecke zurechte, mache de Oogen halb zu, dhne so, als ob ick an jarnischt
denke, un lasse denn so den Loos der Welt von det verjangene Jahr an
mein innerlichet, jeistijet Ooge manchmal vorbeidefiliren.

Na, wat ick da nu so zu sehen krieje, det macht mir merschtendecls jar
keene Freide. Nischt wie Stänkerei uff de Welt, Jeder will sich de Taschen
vollstoppen un der Arbeeter soll de Zeche bezahlen. Det verjangene Jahr
war jewiß nich scheen. Zwar Freide haben wir ooch jehabt, denn wenn
Eugen Richter mit seine Zukunftsbilder nich jewesen wäre, denn wißte ick
wirklich nich, worüber man sich so von Herzen hätte amiesiren kennen.
Jott, wenn ick so bedenke, wenn ick nu so zetzt, wo ick nur nieinen Jrogk
kalt puste, in seinen Znkunftsstaat säße, wo von jeistije Jetränke ieberhanpt

keene Spur is, da wißte ick wirklich nich, >vat ick aufangen sollte. Du
denkst jewiß bei Dir, dct ick een Söffel bin. Aber davon is keene Spur,
ick drinke ieberhanpt blos Schnaps, wenn ick allcenc oder in Jesellschaft
bin. Sonst ieberhanpt nich. Im iebrijen bin ick een jroßer Mäßigkeits-
apostel, un stippe wahrhaftig keene Fensterladen in'n Kaffee. Bor allen
Dingen bin ick nich neidisch, un wenn der jroße Eugen een Jeschäft jemacht
hat, denn soll et mir freien, denn ieber allzu jroßen Ueberfluß an baaren
Draht sollen sich de Freisinnijen ja ieberhanpt nich beklagen kennen. Ick
will froh sein, wenn ick erfahren kennte, ob Eugen wenigstens soville Draht
verdient hat, det er sich an den diesjährijen Silvester eenen orndtlichen
steifen Jrogk leisten kann; denn jede ick wenijstens de Hoffnung noch nich
uff, det aus ihn ooch noch 'mal een verninftijer Mensch wird, mit den sich
een Ton reden laßt. Un wenn det nich der Fall sein sollte, na, denn lasse
ick ihn wenigstens ruhig triefeln, denn kann er meinswejen so bleiben, wie
er iS. Ick habe aber blas Angst, det ihm mal sein Humor und seine
Jemiethstiefe, wovon fe jetzt so ville reden, ausjcht un denn hätten wir
schließlich jar Keenen mehr, über den man mal eenen faulen Wltz reißen kennte.

Denn alle anderen Menschen die wollen heit zu Dage mit aller Jcwalt
ernsthaft jenommen werden. Kiek mal blos nach Friedrichsruh. Manche
olle Racketenkiste kann et doch uff den Dood nich verdragen, wenn man
nich mit de jeheerije Ehrfurcht von ihr sprecht. Un kanuste denn det? Ick
ooch nich. Aber ick will Dir mal wat sagen, Jacob. Man muß nich so
jnietschig sind, un man muß jeden Menschen sein Verjniejcn lassen. Olle
Leite, det weeßt Du ja ooch, sind wunderlich, un se werden merschtendeehls
saujrob, wenn man se in de Quere looft. Also laß den ollen Mann, ick

Allerlei Neujahrswünsche.

s ist eine alte Sitte, daß man zu Beginn
r, » eines neuen Jahres sich und Anderen llittov»
<?***£? schiedliches wünscht. Ihren Ursprung hat
diese Sitte wahrscheinlich in dem Physischen und
moralischen Kater, welcher der Sylvesternacht folgt;
jeder Kater macht nachdenklich, und ans Gedanken
entstehen Wünsche. Will man nun erfahren, was
die Leute sich wünschen, so braucht man allerdings
nicht die schönen goldberänderten Kärtchen und
Briefchen nachzulesen, denn diese gehören zu den
konvcntiouellen Lügen der Kulturnienschhcit und
enthalten theils Selbstverständliches, theils Ge-
heucheltes.

Die wirklichen Wünsche so mancher unserer
lieben Mitmenschen sind weit weniger harmlos und
sie sind aus den Handlungen der Betreffenden un-
schwer zu erkennen.

Da wünschen z. B. die lieben Agrarier, daß
im neuen Jahre die hohen Lebensmittelzölle uns
erhalten bleiben, daniit der Champagner-Import
nicht stockt; denn eine verminderte Konsumtion
dieses vortrefflichen Getränks bedeutet einen Rück-
gang in der Lebenshaltung des deutschen Bauern-
standes.

Die Ultramontanen wünschen, daß das schöne
Zeitalter der Ketzerverbrennungen wiederkehren möge,
denn sie haben mit der geistigen Bekämpfung der
Sozialdemokratie kein Glück, so lange ihnen ihr
bestes Argument, der Scheiterhaufen, fehlt.

Die Kommerzienräthe vom Schlage Wolfs und
Baake wünschen, es möge eine große Korruption
in der deutschen Justiz einreißen, damit künftig

Angeklagte der „besseren" Stände keine Unannehm-
lichkeiten mehr haben, sondern nur unbequeme
Mahner, Sozialdemokraten, Fusangels rc. verknurrt
werden.

Auch die Zünftler haben ihre Wünsche, nur
unterscheiden sie sich von andern Leuten dadurch,
daß sie nicht wissen, was sie wollen. Es schwebt
ihnen dunkel die alte Herrlichkeit des Handwerks
vor, aber Ivic sie dieselbe mit der Neuzeit vereinigen
sollen, bleibt ihnen verborgen; der stärkste Meister
kann keinen Dampfhammer schwingen, der klügste
Jnnungsvater kann mit seinem Taschenseuerzeng
kein elektrisches Licht anzünden, Keiner kann einen
Dampfschlot in der Westentasche herumtragen oder
einen fünfzigpferdigen Motor nüt der Hand in
Betrieb setzen. Er braucht Maschinen, und was
Maschinenwerk ist., das ist kein Handwerk mehr.
Die Jnnungsmenschen wünschen daher nur im All-
gemeinen Alles zum Teufel, was nach Knltur-
fortschritt riecht, und sich selbst wünscht Jeder einen
tüchtigen Sack voll Geld.

Die kapitalistisch gesinnten Buchdrnckereibesitzer
wünschen speziell, daß in diesem Jahre keine Re-
duktion der Arbeitszeit eintritt, weil es ein süßes
Herrscherbewußtsein ist, wenn man weiß, es liegen
so viele hungernde Arbeitslose draußen vor der
Thür, daß man jeden mißliebigen Arbeiter sofort
durch eine souveräne Handbcwegnng verbannen und
eine neue Kraft an seine Stelle rufen kann.

Das Manchesterthum im Allgemeinen schließt
sich diesem Wunsche auch für alle andern Berufs-
zweige an, und im rührenden Gegensätze hierzu
wollen die Kolonialpolitiker die Sklaverei abschaffcn,
allerdings nur in Afrika und nur in der arabisch-

afrikanischen Form. Viele Afrikaner sind auch
schon durch die guten Gewehre der Schntztruppcn
von aller Sklaverei dieses Erdendaseins erlöst wor-
den. Ob man aber in Afrika wünscht, daß das
neue Jahr weitere solche Erlösungen bringen möge,
mag dahingestellt bleiben.

Gegen die Börse.

A. : Meinen Sie wirklich, daß die Reichsgesetz-
gcbung jetzt der Börse zu Leibe gehen wird?

B. : O gewiß! So lange die Reichsgesetzgebung
existirt, ist sie der Börse zu Leibe gegangen —
allerdings nur der Börse des Steuerzahlers.

Der verstellbare Waffenrock.

in berühmter Arzt hat einmal gesagt: Es
giebt unter den dicken Bäuchen drei Grade;
der erste Grad deutet auf Wohlbehagen und
Wohlleben, der zweite Grad macht einen komischen
Eindruck, der dritte Grad ist krankhafter Natur. Der
dicke Bauch des Privatier Schwammerling hätte schon
den Höhepunkt des zweiten Grads «reicht. Davon
war er selbst keineswegs erbaut, zumal er ein großer
Freund des schönen Geschlechts war und ans die
Frauenzimmer eine schlanke Taille viel mehr An-
ziehung ausübt, als ein noch so imposant gewölbter
Bierbauch. Ein Portraitist, der seine Persönlich-
lichkeit charakteristisch aus die Nachwelt bringen
wollte, hätte ihn malen müssen, wie er an der mit
Wildpret, Geflügel, Flaschen und Gläsern bestellten
Tafel sitzt, die Serviette unter dem feisten Kinn, Messer
und Gabel tapfer und virtuos handhabend.
 
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