1166
Illustrirter deutscher Klassiker»
„An die Rünstie-r" von Lchrller.
L.
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4 f f
L.
Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige,
Stehst du an des Jahrhunderts Neige.
In edler stolzer Männlichkeit.
1.
In thatcnreichcr Sülle
Der reifste Sohn der Zeit.
Mit aufgeschloss'nem Sinn, mit Gcistesfülle
Voll milden Ernst's —
Das Heilmittel.
Kanzler: Sagen Sie aufrichtig: cxistirt wirk-
lich ein Nothstand im Lande oder nicht?
Geheimrath: Wenn Exzellenz es gestatten, so
sind allerdings die Lcbensmittelpreise sehr gesteigert
und der Verdienst herabgegangen, so daß viele Leute
ihren Hunger nicht mehr stillen können.
Kanzler: Und was läßt sich dagegen thun?
Geheimrath: Exzellenz, — es müssen die
Beamtengehalbe erhöht werden.
Aus der Kolonie.
Der kleineMoritz: Papa, werden in Afrika auch
zu Weihnachten die Christ bäume angebrannt?
Papa: O nein, dort brennt man gleich die
ganzen Dörfer an.
Die Tante war mit dieser wahrheitsgetreuen
Auskunft zufrieden. Schuhmacher Pechler schlug
vor, zu Ehren der Besucherinnen das Tantenlied
zu singen, und cs ertönte im Chor das bekannte
Lied: „Ich halt' 'ne liebe Tante, das war 'ne brave
Frau," mit dem Refrain: „Ach, wenn doch Deine
Tante meine Tante war!" Die Tante war ge-
rührt und bestellte die erste Bowle.
Als der dampfende Trank erschien, sang die
ganze Gesellschaft das Petroleumlied:
„Laßt die Humpen frisch voll pumpen.
Dreimal hoch, Petroleum!"
Das war eine Freude; so etwas hatten die
Provinzbewohnerinnen noch nicht gehört. Die beiden
Mädchen stimmten in den Refrain „Hier Petro-
leum" schon kräftig ein und die Tante füllte mit
den Worten „Hier Petroleum, da Petroleum" die
Gläser.
Es folgten auch ernste Vorträge; längere Ge-
dichte wurden deklamirt, sogar eine Arie wurde ge-
sungen. Man hatte nämlich die neuesten Blätter-
Berbote nach der Melodie der „Letzten Rose" arrangirt
und eine Dame sang:
„Letzte Zeitung, wie wirst du
So einsam expedirt.
Deine freundlichen Schwestern
Sind längst, ja längst konfiszirt."
So schwand die Zeit im Fluge, und der Kom-
missär Greifer war säst vergessen.
* *
*
Inzwischen hatte Greifer verschiedene Lokale ver-
geblich nach den Sozialisten abgesucht, als ihm ein
anonymer Zettel zugesteckt wurde mit der Bemerk-
ung, die Feier der Sozialisten finde im „schwarzen
Hasen" statt. Greifer glaubte die Handschrift seines
Freundes Fuchs zu erkennen. Der „schwarze Hase"
war zwei Stunden von der Stadt entfernt und es
lag tiefer Schnee. Aber was half's; ein Schlitten
wurde genommen und fort ging'S mit Windeseile
nach dem „schwarzen Hasen"; die Sozialdemokraten
sollten den alten Greifer kennen lernen.
Seine sieben Brüder saßen indessen viel wärmer.
Jedem von ihnen war beim Erscheinen am Portal
des „schielenden Walfisches" ein junger Mann ent-
gegen getreten mit der höflichen Frage, ob Herr
Greifer ihn bestellt habe? Auf Bejahung war der
Bescheid erfolgt, Herr Greifer sei noch dienstlich
beschäftigt, man solle ihn nebenan in der „blauen
Flamme" erwarten. Die „blaue Flamme" war
eine größere Schnapskncipe. So verschwand von
den fiebeu Brüdern einer nach dem andern in der
„blauen Flamme."
Oben bei der Tante hatte inzwischen das Ver-
gnügen seinen Höhepunkt erreicht. Ihre gelegentliche
Frage, wo Greifer bleibe, wurde damit beschwichtigt,
bei „unserem Geschäft" könne man nicht pünktlich
sein, der Dienst gehe vor; das leuchtete ihr völlig
ein. Die dritte Bowle war schon in Betrieb, als
die Mitternacht herannahte. Das alte Jahr wurde
mit den Klängen der Arbeiter-Marseillaise begraben;
die Tante fand das Lied sehr schön, sie hielt es für
religiös, weil die Menschenliebe darin betont wurde;
daß die Menschenliebe vor dem krassen Egoismus
der kapitalistischen Gesellschaft zu den Sozialdemo-
kraten geflohen ist, das wußte die gute Frau
natürlich nicht.
Die zwölf Glockenschlüge verhallten und „Prosit
Neujahr" jubelte Alles. Man umarmte und küßte
sich; die beiden Mädchen, selbst die Tante kamen
nicht zu kurz. Da donnerte plötzlich eine Stimme:
„Was geht hier vor?"
Kommissär Greifer stand mitten im Zinimer,
man hatte sein Kommen überhört.
„Na, endlich kommst Du Sakramenter," rief
die Tante. „Hast uns lange warten lassen! Prost!"
Und Alles rief „Prost Neujahr" und hielt dem
Eingetretenen die Gläser entgegen.
Da zog eine Wetterwolke über Greifer's Stirn.
„Ruhig, oder ich verhafte Euch Alle!" rief er.
„Na, da schrei' doch nicht so, alter Grobian,"
entgegnete die Tante, und eine ihrer Töchter fügte
hinzu, man solle lieber das Lied „Hier Petroleum"
noch einmal singen, das werde den Onkel gewiß
freuen. Das Lied wurde auch gleich angestimmt.
„Aber Tante, wie bist Du dumm!" schrie Greifer
dazwischen. „Du bist ja unter lauter Sozialdemo-
kraten !"
„Oho!" zürnte die Tante, „zu dumm bin ich
Dir? Meinetwegen können es Sozialdemokraten
sein, es sind gemüthliche Leute und wenn Du die
Gemüthlichkeit stören willst, kannst Du gehen. Aber
weißt Du, mit dem Gelde, das Du von mir habe»
wolltest — —."
„Ruhig, Tante," sagte Greifer in bedeutend mil-
derem Tone. Dann sah er sich im ganzen Kreise um.
„Wo sind denn eigentlich meine sieben Brüder?"
Ja, die sieben Brüder! an die hatte kein Mensch
mehr gedacht. „Vielleicht sind sie in der „blauen
Flamme," warf Rother leicht hin.
Der Kommissär sandte ihni einen forschenden
Blick zu. Er sah eine verschmitzt-spöttische Miene
und er wußte, wo er die Sieben zu suchen hatte.
Von den Klängen des Petroleumliedes begleitet,
verließ er das Lokal.
Was in der „blauen Flamme" vorgegiingen,
wissen wir blos vom Hörensagen. Die sieben
Brüder sollen sehr entrüstet gewesen sein, daß man
sie so lange warten ließ; auch der Genuß von
Spirituosen soll sie nicht versöhnlich gestimmt haben.
Es hieß, sie hätten ihren Bruder mit Vorwürfen
empfangen; letzterer, gleichfalls in schlimmster Laune,
habe heftig geantwortet und so habe sich ein förm-
licher Bruderkrieg entwickelt.
Nun, gleichviel, unsere Sylvesterfeier wurde
dadurch nicht beeinflußt; ein Genosse setzte sich ans
Klavier, und die ersten Stunden des neuen Jahres
sahen uns bei einem flotten Tänzchen. Die Tante
wurde schließlich von Rother selbst über den Hergang
der Sache aufgeklärt, aber sie konnte uns nicht zürnen,
es hatte ihr zu gut gefallen, und ihre Töchter hatten
ihr bekannt, daß sie sich amüsirten wie noch nie.
So schieden wir von der Kriminal-Tante in
vollem Frieden. Auch wir haben selten eine so
lustige Sylvesterfeier begangen wie damals, als wir
der Polizei das Lokal abgetrieben hatten.
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Illustrirter deutscher Klassiker»
„An die Rünstie-r" von Lchrller.
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Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige,
Stehst du an des Jahrhunderts Neige.
In edler stolzer Männlichkeit.
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Der reifste Sohn der Zeit.
Mit aufgeschloss'nem Sinn, mit Gcistesfülle
Voll milden Ernst's —
Das Heilmittel.
Kanzler: Sagen Sie aufrichtig: cxistirt wirk-
lich ein Nothstand im Lande oder nicht?
Geheimrath: Wenn Exzellenz es gestatten, so
sind allerdings die Lcbensmittelpreise sehr gesteigert
und der Verdienst herabgegangen, so daß viele Leute
ihren Hunger nicht mehr stillen können.
Kanzler: Und was läßt sich dagegen thun?
Geheimrath: Exzellenz, — es müssen die
Beamtengehalbe erhöht werden.
Aus der Kolonie.
Der kleineMoritz: Papa, werden in Afrika auch
zu Weihnachten die Christ bäume angebrannt?
Papa: O nein, dort brennt man gleich die
ganzen Dörfer an.
Die Tante war mit dieser wahrheitsgetreuen
Auskunft zufrieden. Schuhmacher Pechler schlug
vor, zu Ehren der Besucherinnen das Tantenlied
zu singen, und cs ertönte im Chor das bekannte
Lied: „Ich halt' 'ne liebe Tante, das war 'ne brave
Frau," mit dem Refrain: „Ach, wenn doch Deine
Tante meine Tante war!" Die Tante war ge-
rührt und bestellte die erste Bowle.
Als der dampfende Trank erschien, sang die
ganze Gesellschaft das Petroleumlied:
„Laßt die Humpen frisch voll pumpen.
Dreimal hoch, Petroleum!"
Das war eine Freude; so etwas hatten die
Provinzbewohnerinnen noch nicht gehört. Die beiden
Mädchen stimmten in den Refrain „Hier Petro-
leum" schon kräftig ein und die Tante füllte mit
den Worten „Hier Petroleum, da Petroleum" die
Gläser.
Es folgten auch ernste Vorträge; längere Ge-
dichte wurden deklamirt, sogar eine Arie wurde ge-
sungen. Man hatte nämlich die neuesten Blätter-
Berbote nach der Melodie der „Letzten Rose" arrangirt
und eine Dame sang:
„Letzte Zeitung, wie wirst du
So einsam expedirt.
Deine freundlichen Schwestern
Sind längst, ja längst konfiszirt."
So schwand die Zeit im Fluge, und der Kom-
missär Greifer war säst vergessen.
* *
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Inzwischen hatte Greifer verschiedene Lokale ver-
geblich nach den Sozialisten abgesucht, als ihm ein
anonymer Zettel zugesteckt wurde mit der Bemerk-
ung, die Feier der Sozialisten finde im „schwarzen
Hasen" statt. Greifer glaubte die Handschrift seines
Freundes Fuchs zu erkennen. Der „schwarze Hase"
war zwei Stunden von der Stadt entfernt und es
lag tiefer Schnee. Aber was half's; ein Schlitten
wurde genommen und fort ging'S mit Windeseile
nach dem „schwarzen Hasen"; die Sozialdemokraten
sollten den alten Greifer kennen lernen.
Seine sieben Brüder saßen indessen viel wärmer.
Jedem von ihnen war beim Erscheinen am Portal
des „schielenden Walfisches" ein junger Mann ent-
gegen getreten mit der höflichen Frage, ob Herr
Greifer ihn bestellt habe? Auf Bejahung war der
Bescheid erfolgt, Herr Greifer sei noch dienstlich
beschäftigt, man solle ihn nebenan in der „blauen
Flamme" erwarten. Die „blaue Flamme" war
eine größere Schnapskncipe. So verschwand von
den fiebeu Brüdern einer nach dem andern in der
„blauen Flamme."
Oben bei der Tante hatte inzwischen das Ver-
gnügen seinen Höhepunkt erreicht. Ihre gelegentliche
Frage, wo Greifer bleibe, wurde damit beschwichtigt,
bei „unserem Geschäft" könne man nicht pünktlich
sein, der Dienst gehe vor; das leuchtete ihr völlig
ein. Die dritte Bowle war schon in Betrieb, als
die Mitternacht herannahte. Das alte Jahr wurde
mit den Klängen der Arbeiter-Marseillaise begraben;
die Tante fand das Lied sehr schön, sie hielt es für
religiös, weil die Menschenliebe darin betont wurde;
daß die Menschenliebe vor dem krassen Egoismus
der kapitalistischen Gesellschaft zu den Sozialdemo-
kraten geflohen ist, das wußte die gute Frau
natürlich nicht.
Die zwölf Glockenschlüge verhallten und „Prosit
Neujahr" jubelte Alles. Man umarmte und küßte
sich; die beiden Mädchen, selbst die Tante kamen
nicht zu kurz. Da donnerte plötzlich eine Stimme:
„Was geht hier vor?"
Kommissär Greifer stand mitten im Zinimer,
man hatte sein Kommen überhört.
„Na, endlich kommst Du Sakramenter," rief
die Tante. „Hast uns lange warten lassen! Prost!"
Und Alles rief „Prost Neujahr" und hielt dem
Eingetretenen die Gläser entgegen.
Da zog eine Wetterwolke über Greifer's Stirn.
„Ruhig, oder ich verhafte Euch Alle!" rief er.
„Na, da schrei' doch nicht so, alter Grobian,"
entgegnete die Tante, und eine ihrer Töchter fügte
hinzu, man solle lieber das Lied „Hier Petroleum"
noch einmal singen, das werde den Onkel gewiß
freuen. Das Lied wurde auch gleich angestimmt.
„Aber Tante, wie bist Du dumm!" schrie Greifer
dazwischen. „Du bist ja unter lauter Sozialdemo-
kraten !"
„Oho!" zürnte die Tante, „zu dumm bin ich
Dir? Meinetwegen können es Sozialdemokraten
sein, es sind gemüthliche Leute und wenn Du die
Gemüthlichkeit stören willst, kannst Du gehen. Aber
weißt Du, mit dem Gelde, das Du von mir habe»
wolltest — —."
„Ruhig, Tante," sagte Greifer in bedeutend mil-
derem Tone. Dann sah er sich im ganzen Kreise um.
„Wo sind denn eigentlich meine sieben Brüder?"
Ja, die sieben Brüder! an die hatte kein Mensch
mehr gedacht. „Vielleicht sind sie in der „blauen
Flamme," warf Rother leicht hin.
Der Kommissär sandte ihni einen forschenden
Blick zu. Er sah eine verschmitzt-spöttische Miene
und er wußte, wo er die Sieben zu suchen hatte.
Von den Klängen des Petroleumliedes begleitet,
verließ er das Lokal.
Was in der „blauen Flamme" vorgegiingen,
wissen wir blos vom Hörensagen. Die sieben
Brüder sollen sehr entrüstet gewesen sein, daß man
sie so lange warten ließ; auch der Genuß von
Spirituosen soll sie nicht versöhnlich gestimmt haben.
Es hieß, sie hätten ihren Bruder mit Vorwürfen
empfangen; letzterer, gleichfalls in schlimmster Laune,
habe heftig geantwortet und so habe sich ein förm-
licher Bruderkrieg entwickelt.
Nun, gleichviel, unsere Sylvesterfeier wurde
dadurch nicht beeinflußt; ein Genosse setzte sich ans
Klavier, und die ersten Stunden des neuen Jahres
sahen uns bei einem flotten Tänzchen. Die Tante
wurde schließlich von Rother selbst über den Hergang
der Sache aufgeklärt, aber sie konnte uns nicht zürnen,
es hatte ihr zu gut gefallen, und ihre Töchter hatten
ihr bekannt, daß sie sich amüsirten wie noch nie.
So schieden wir von der Kriminal-Tante in
vollem Frieden. Auch wir haben selten eine so
lustige Sylvesterfeier begangen wie damals, als wir
der Polizei das Lokal abgetrieben hatten.
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