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1379

Die werden ihn doch zum Reden oder wenigstens zum Denken bringen!
Sie fingen es sehr kräftig an. „Wie denken Sie über Frankreich?
Rußland? Zarenbesuch? Dreibund?" re. re. re.

Caprivi lächelte ein ganz exquisit diplomatisches Lächeln. „Ja,
Rußland! — ja, Frankreich!" meinte er vielsagend und beschäftigte
sich mit dem Deckblatt seiner Zigarre, welches ein wenig aufgerollt
war; wollte er damit die Aufrollung der europäischen oder orientalischen
Frage andeuten?

Ich las seine Gedanken und staunte.

„O, Ihr dummen Teufel!" dachte Caprivi. „Meint Ihr, ich wisse
mehr wie andere Leute? Wie kann ich denn ahnen, was mir morgen
befohlen wird, oder was meinen Kollegen in Paris oder Petersburg
übermorgen vielleicht einfällt?"

Aus diesem Gedankengange entnahm ich, daß es zwecklos sein
würde, die Pläne Caprivi's in Betreff der Richtung seines „neuen
Kurses" noch zu erforschen. Enttäuscht wandte ich mich ab und setzte
mich mitten in den dichtesten
Schwarm der übrigen Kur-
gäste, worin die Haute-volee
von ganz Europa vertreten
war. Vielleicht hatte dort
Einer oder der Andere doch
einen vernünftigen Gedanken.

Da war zum Beispiel ein
Wohlthäter der Menschheit,
welcher mit prunkenden Wor-
ten für ein neues Projekt zu
Gunsten der Armen und Elen-
den Propaganda machte und
im Namen eines Wohlthätig-
keitsvereins milde Gaben ein-
sammelte.

Ich steuerte mein Scherf-
lein bei und warf einen Blick
in die Gedankenwelt des edlen
Mannes. Was ich fand, ent-
sprach jedoch nicht meinen Er-
wartungen. „DenWohlthätig-
keitsverein müssen wir hoch-
bringen," dachte er, „damit sich
die Anstellung eines Sekre-
tärs nothwendig macht; und
den Sekretärsposten kriegt der
junge Schlappermeier, der
längst schon darauf lauert, so-
fern er meine Tochter Aurora
heirathet; das Mädel wird
alt, ich präsentire sie vergeblich auf allen Wohlthätigkeitsbazaren, nun
muß endlich etwas Entscheidendes geschehen, sonst behalte ich sie
rettungslos auf dem Halse."

„Vortrefflich," sagte ich mir, „jetzt weiß ich wenigstens, wozu es
Arme und Elende auf der Welt giebt; ohne sie würde Aurora bis
zum jüngsten Tage ledig bleiben; es ist doch Alles recht zweckmäßig
eingerichtet in der Schöpfung."

Von Karlsbad hatte ich nun genug. Nach reiflicher Ueberlegung
beschloß ich, den Stier bei den Hörnern zu fassen, indem ich darauf
ausginge, zu erforschen, was die Feinde des Volkes und der Freiheit
denken, welche Pläne sie schmieden u. s. w. Als erstes Objekt wählte
ich mir den Altreichskanzler. Ich fuhr direkt nach Friedrichsruh
zu Bismarck.

Der alte Knasterbart nahm mich freundlich auf. Er dachte, ich
sei ein Reporter, dem er einen ordentlichen Bären aufbinden könnte
zur Verherrlichung seiner früheren politischen Thätigkeit. Ich ließ
ließ ihn in dem Glauben und frug:

„Ist die Geschichte mit Schuwaloff wahr, Durchlaucht?"

„Ach was," dachte Bismarck, „wenn sie wahr wäre, so stände
sie nicht in den ,Hamburger Nachrichten?"

„Warum sind Sie denn eigentlich abgesetzt worden," frug ich
hierauf.

„Ach, sehen Sie," dachte der Fürst, „als ich eines frühen Morgens
von einer hohen Persönlichkeit besucht wurde, konnte ich nicht schnell
genug in die Unterhosen kommen und deshalb-- —"

Ganz erschüttert verabschiedete ich mich und fuhr zuin König Stumm
in Neunkirchen.

Im Eisenbahnwagen saß ich mit einigen Tugendbündlern und
Sittlichkeitsvereinlern aus Leipzig zusammen, die sich sehr über die
Verdorbenheit des Volkes aufhielten. Die Gedanken, welche ich bei
diesen Leuten erforschte, kann ich aber hier nicht wiedergebeu; es
würde gegen den Anstand verstoßen.

Als ich im Königreich Stumm ankam, wurde ich von einigen
Eingeborenen aufgegriffen und vor den Gewaltigen geschleppt.

„Was wollen Sie in meinem Reiche?" herrschte er mich an.

Ganz offen bekannte ich, daß ich Gedankenleser sei und mich für

alle in dieser Gegend maß-
gebenden Gedanken sehr in-
teressiren würde.

„Da sind Sie fehlge-
gangen," äußerte er, „hier
darf überhaupt nicht gedacht
werden!"

So leicht ließ ich mich
aber nicht abweisen; ich berief
mich auf Empfehlungen von
einflußreichen Persönlichkeiten,
welche ich angeblich in der
Tasche hatte und sagte, er
brauche sich keine Unkosten zu
machen, wenn er mich zur
Tafel ziehen wolle; es sei
durchaus nicht nöthig, einen
Speisenwagen für zwanzig-
tausend Mark aus Berlin kom-
men zu lassen, ich sei schon mit
Schildkrötensuppe, Geflügel,
Austern, Champagner und son-
stigen Kleinigkeiten zufrieden.

Diese Bescheidenheit rührte
den Gewaltigen, er lud mich
zu einem Souper, an welchem
mehrere der hervorragendsten
Knallprotzen Westfalens theil-
nahmen, und ich war auf die
dabei zu Tage tretenden Ge-
danken sehr gespannt.

Kaum waren auch Lössel und Messer in Bewegung, so begann
schon die Schlacht gegen die Sozialdemokratie. Die Arbeiter seien
genußsüchtig und faul, die Führer des Erschießens mit Judenflinten
werth. Besonders der König Stumm war auf die Führer schlecht zu
sprechen; die letzten Reichstagsreden Bebel's lagen ihm noch in den
Gliedern.

So wetterte er gegen die Sozialdemokratie — aber was dachte
er dabei im Stillen?

Ich las bei ihm folgenden Gedanken:

„Das Schlimmste ist, daß die Sozialdemokraten Recht haben;
das Beste ist, daß die dumme Masse es im großen Ganzen noch
nicht einsieht."

Das war der erste kluge Gedanken, der mir bei meiner ganzen
Gedankenleserei vorgekommen.

Und gerade hier mußte ich ihn finden!

Nach diesen dürftigen Resultaten habe ich das Gedankenlesen ganz
aufgegeben; ich habe gefunden: es kommt nicht viel dabei heraus.
Wenn man die leitenden Gedanken der heutigen Gesellschaft ans ihren
Werth prüft, dann erkennt man, wie wenig die Deutschen sich darauf
einbilden diirfen, daß man sie das „Volk der Denker" nennt.

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