1303
„Ruhig!" donnerte der Inspektor. „Ihr feiert den Geburtstag
von einem gewissen Lassalle. Wer ist dieser Lassalle? Wo ist er?"
Jetzt folgte statt aller Antwort allgemeines Gelächter. Der Polizei-
mann sah sich zornig im Kreise um. Die meisten der Anwesenden
kannte er; aber da fiel sein Blick auf eine ihm fremde Erscheinung.
Am Ende der Tafel saß ein noch ziemlich junger
Mann, der nicht die ortsübliche Kleidung trug,
sondern mit einem schwarzen Tuchrock angethan
war; außerdem trug er Stehkragen und seidene
Kravatte, auch einen Sommer-Ueberzieher hatte
er lose über die Schultern geworfen. Dieser
Fremde, ein Mechaniker aus Norddeutschland,
der seit Kurzem hier weilte, hatte sich bei den
Uebrigen als Parteigenosse legitimirt, war
freundlich ausgenommen worden, und erweckte
jetzt den Verdacht des Inspektors.
„Sie sind der Lassalle!" sprach derselbe,
an ihn herantretend.
Der Angeredete zuckte die Achseln. „Sie
müssen es ja wissen," sagte er gleichmüthig.
Die Heiterkeit der Tafelrunde nahm zu.
„Wo wohnen Sie? wo ist Jhre Heimath?"
fragte der Inspektor.
„Die Heimath Lassalle's ist im Olymp,"
erwiderte der Gefragte ernsthaft.
„Olymp?" murrte der Gestrenge, „das ist wahrscheinlich wieder
so ein vertracktes Schwabennest, was kein anständiger Christenmensch
kennt. Sie haben eine unangemeldete Versammlung hier veranstaltet
unter dem Vorwände der Geburtstagsfeier; außerdem — Ihren
Namen muß ich schon einmal gehört haben, will gleich Nachsehen —
Er blätterte in seinem Notizbuche und entfaltete ein Verzeichniß.
„Richtig: Lassalle, Antwortschreiben, Arbeiterprogramm, Hochverraths-
Prozeß — — aha. Sie sind ein ganz gefährlicher Mensch, Sie
werden jetzt mit mir gehen, Ihre Personalien müssen festgestellt
werden. Sie sind bis aui
Weiteres verhaftet."
„Oho!" riefen die An-
dern, „das geht zu weit!
Es ist ja gar nicht —
„Ruhig, Freunde," sag-
te der Verhaftete beschwich-
tigend. „Verderbt den köst-
lichen Spaß nicht, ich will
doch sehen, was man in die-
sen Bergen mit dem Lassalle
anfängt." Er ging mit dem
Inspektor, die Andern im
Zuge hinterher, indem sie
sangen: „Der Staat ist in
Gefahr!" Die Spießbürger
steckten scheu die Köpfe zu-
sammen.
„Jetzt werden's Alle
eing'sperrt," hieß es.
Das Haftlokal des
Städtchens war sehr primi-
tiv, eigentlich blos für Hand-
werksburschen eingerichtet.
Um einen gefährlichen Ge-
fangenen gegen etwaige
Flucht- und Befreiungsver-
suche zu sichern, war ein
besonderer Wachtposten nö-
thig, und der Inspektor be-
stimmte hierzu den Gen-
darmen, welcher sonst den
Bahnhofsdienst gehabt hätte.
Daun telegraphirte er an den
zuständigen Staatsanwalt:
„Habe Lassalle abgefaßt. Was soll geschehen?"
Nach geraumer Zeit kam die Antwort: „Beschlagnahme aus-
sprechen und sodann einstampfen lassen."
Der Inspektor schüttelte den Kopf. „Einstampsen? Einen leben-
digen Menschen? Das ist nit möglich! Allerdings — wie die
bayrische Staatskommission in Hohenschwangau war, sind ganz ahn-
„Wer ist dieser Lassalle? Wo ist er?"
liche Befehls gegeben worden; mit dene Hochverräthersgeschichten
kennt man sich nit aus. Aber ich mag nix damit zu thun haben —"
Auf Grund dieses Monologs telegraphirte der brave Inspektor
zurück, es seien am Orte absolut keine Vorrichtungen zum Einstampfen
eines lebendigen Menschen vorhanden, er werde daher den Gefangenen
nach der Kreishauptstadt transportiren lassen.
Inzwischen war das Lokal des Polizei-
gewahrsams von vielem Volk umlagert. Die
Behauptung der Sozialdemokraten, daß nian
den Ferdinand Lassalle hier gefangen halte,
wurde doch nicht ohne Weiteres geglaubt.
„Unsinn! Der ist ja längst tobt! im Duell
gefallen!" hatte ein alter Mann gesagt. „Was?
Erschossen?" hieß es weiter. „Warum?" „Wegen
aner Gräfin oder so was?" „A Gräfin hat er
erschossen?" fragten Andere, die nur halb zu-
gehört hatten. „Der schlechte Kerl!" „War a
g'scheidter Mann! Bismarck hat sogar mit 'm
unterhandelt." „Au weh, bei Bismarck war er;
nachher g'schicht's ihm Recht, daß er eing'sperrt
is." „Er ist das ja gar nit; er is ja todt."
„Warum steht nachher der Gendarm auf
Wacht?".So ventilirte die Volls-
stimme das große Ereigniß der Verhaftung
Lassalle's.
Es war Abend geworden; die Sozialisten, mit Kienfackeln aus-
gerüstet, erschienen im Zuge vor dem Lokale und sangen ein altes,
aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein stammendes Lassalle-
Lied nach der Melodie des Radetzky-Marsches. Es heißt darin:
Und blickt Ihr in dem Kreise
Der Uns'rigen umher,
So seht Ihr manchen Braven,
Doch kein' Lassalle mehr.
„Jetzt wird er begraben," sagten mehrere Frauen andächtig.
Da kain der dicke In-
spektor athemlos aus dem
Gemeindehaus e herüber, eine
Depesche in der Hand. Der
Staatsanwalt hatte tele-
graphirt: „Einstampfen be-
zieht sich natürlich nur auf
Schriften; wenn Sie Lassalle
lebendig gefangen zu ha-
ben glauben, lassen Sie ihn
augenblicklich los."
„Sie, der Lassalle ist ja
todt," wurde dem Inspektor
zugerufen.
Er erschrack. „Das fehlte
noch; ich muß ihn lebendig
frei geben, sonst denkt der
Staatsanwalt, ich habe ihn
schon einstampfen lassen."
Wenige Minuten später
war der Gefangene frei
und wurde von seinen Ge-
nossen wie von allen Um-
stehenden mit stürmischem
Jubel begrüßt. Die Feier
von Lassalle's Geburtstag
wurde im großen Bräuhaus-
garten fortgesetzt und der
aus dem Polizeigewahrsam
Entlassene mußte, um die
erregte Neugier zu befriedi-
gen, einen Vortrag über
Lassalle's Leben und Wirken
improvisiren.
Inzwischen hatte längst der Abendzug die Station passirt. Die
erwarteten Packete und sozialistischen Schriften waren vom Heizer,
welcher sie unter den Kohlen verborgen gehabt hatte, unbemerkt an
die Vertrauensmänner abgeliefert worden.
Der Zug, befreit von seiner Kontrebande, brauste weiter; so war
auch hier „der Staat gerettet." m. u.
„Ruhig!" donnerte der Inspektor. „Ihr feiert den Geburtstag
von einem gewissen Lassalle. Wer ist dieser Lassalle? Wo ist er?"
Jetzt folgte statt aller Antwort allgemeines Gelächter. Der Polizei-
mann sah sich zornig im Kreise um. Die meisten der Anwesenden
kannte er; aber da fiel sein Blick auf eine ihm fremde Erscheinung.
Am Ende der Tafel saß ein noch ziemlich junger
Mann, der nicht die ortsübliche Kleidung trug,
sondern mit einem schwarzen Tuchrock angethan
war; außerdem trug er Stehkragen und seidene
Kravatte, auch einen Sommer-Ueberzieher hatte
er lose über die Schultern geworfen. Dieser
Fremde, ein Mechaniker aus Norddeutschland,
der seit Kurzem hier weilte, hatte sich bei den
Uebrigen als Parteigenosse legitimirt, war
freundlich ausgenommen worden, und erweckte
jetzt den Verdacht des Inspektors.
„Sie sind der Lassalle!" sprach derselbe,
an ihn herantretend.
Der Angeredete zuckte die Achseln. „Sie
müssen es ja wissen," sagte er gleichmüthig.
Die Heiterkeit der Tafelrunde nahm zu.
„Wo wohnen Sie? wo ist Jhre Heimath?"
fragte der Inspektor.
„Die Heimath Lassalle's ist im Olymp,"
erwiderte der Gefragte ernsthaft.
„Olymp?" murrte der Gestrenge, „das ist wahrscheinlich wieder
so ein vertracktes Schwabennest, was kein anständiger Christenmensch
kennt. Sie haben eine unangemeldete Versammlung hier veranstaltet
unter dem Vorwände der Geburtstagsfeier; außerdem — Ihren
Namen muß ich schon einmal gehört haben, will gleich Nachsehen —
Er blätterte in seinem Notizbuche und entfaltete ein Verzeichniß.
„Richtig: Lassalle, Antwortschreiben, Arbeiterprogramm, Hochverraths-
Prozeß — — aha. Sie sind ein ganz gefährlicher Mensch, Sie
werden jetzt mit mir gehen, Ihre Personalien müssen festgestellt
werden. Sie sind bis aui
Weiteres verhaftet."
„Oho!" riefen die An-
dern, „das geht zu weit!
Es ist ja gar nicht —
„Ruhig, Freunde," sag-
te der Verhaftete beschwich-
tigend. „Verderbt den köst-
lichen Spaß nicht, ich will
doch sehen, was man in die-
sen Bergen mit dem Lassalle
anfängt." Er ging mit dem
Inspektor, die Andern im
Zuge hinterher, indem sie
sangen: „Der Staat ist in
Gefahr!" Die Spießbürger
steckten scheu die Köpfe zu-
sammen.
„Jetzt werden's Alle
eing'sperrt," hieß es.
Das Haftlokal des
Städtchens war sehr primi-
tiv, eigentlich blos für Hand-
werksburschen eingerichtet.
Um einen gefährlichen Ge-
fangenen gegen etwaige
Flucht- und Befreiungsver-
suche zu sichern, war ein
besonderer Wachtposten nö-
thig, und der Inspektor be-
stimmte hierzu den Gen-
darmen, welcher sonst den
Bahnhofsdienst gehabt hätte.
Daun telegraphirte er an den
zuständigen Staatsanwalt:
„Habe Lassalle abgefaßt. Was soll geschehen?"
Nach geraumer Zeit kam die Antwort: „Beschlagnahme aus-
sprechen und sodann einstampfen lassen."
Der Inspektor schüttelte den Kopf. „Einstampsen? Einen leben-
digen Menschen? Das ist nit möglich! Allerdings — wie die
bayrische Staatskommission in Hohenschwangau war, sind ganz ahn-
„Wer ist dieser Lassalle? Wo ist er?"
liche Befehls gegeben worden; mit dene Hochverräthersgeschichten
kennt man sich nit aus. Aber ich mag nix damit zu thun haben —"
Auf Grund dieses Monologs telegraphirte der brave Inspektor
zurück, es seien am Orte absolut keine Vorrichtungen zum Einstampfen
eines lebendigen Menschen vorhanden, er werde daher den Gefangenen
nach der Kreishauptstadt transportiren lassen.
Inzwischen war das Lokal des Polizei-
gewahrsams von vielem Volk umlagert. Die
Behauptung der Sozialdemokraten, daß nian
den Ferdinand Lassalle hier gefangen halte,
wurde doch nicht ohne Weiteres geglaubt.
„Unsinn! Der ist ja längst tobt! im Duell
gefallen!" hatte ein alter Mann gesagt. „Was?
Erschossen?" hieß es weiter. „Warum?" „Wegen
aner Gräfin oder so was?" „A Gräfin hat er
erschossen?" fragten Andere, die nur halb zu-
gehört hatten. „Der schlechte Kerl!" „War a
g'scheidter Mann! Bismarck hat sogar mit 'm
unterhandelt." „Au weh, bei Bismarck war er;
nachher g'schicht's ihm Recht, daß er eing'sperrt
is." „Er ist das ja gar nit; er is ja todt."
„Warum steht nachher der Gendarm auf
Wacht?".So ventilirte die Volls-
stimme das große Ereigniß der Verhaftung
Lassalle's.
Es war Abend geworden; die Sozialisten, mit Kienfackeln aus-
gerüstet, erschienen im Zuge vor dem Lokale und sangen ein altes,
aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein stammendes Lassalle-
Lied nach der Melodie des Radetzky-Marsches. Es heißt darin:
Und blickt Ihr in dem Kreise
Der Uns'rigen umher,
So seht Ihr manchen Braven,
Doch kein' Lassalle mehr.
„Jetzt wird er begraben," sagten mehrere Frauen andächtig.
Da kain der dicke In-
spektor athemlos aus dem
Gemeindehaus e herüber, eine
Depesche in der Hand. Der
Staatsanwalt hatte tele-
graphirt: „Einstampfen be-
zieht sich natürlich nur auf
Schriften; wenn Sie Lassalle
lebendig gefangen zu ha-
ben glauben, lassen Sie ihn
augenblicklich los."
„Sie, der Lassalle ist ja
todt," wurde dem Inspektor
zugerufen.
Er erschrack. „Das fehlte
noch; ich muß ihn lebendig
frei geben, sonst denkt der
Staatsanwalt, ich habe ihn
schon einstampfen lassen."
Wenige Minuten später
war der Gefangene frei
und wurde von seinen Ge-
nossen wie von allen Um-
stehenden mit stürmischem
Jubel begrüßt. Die Feier
von Lassalle's Geburtstag
wurde im großen Bräuhaus-
garten fortgesetzt und der
aus dem Polizeigewahrsam
Entlassene mußte, um die
erregte Neugier zu befriedi-
gen, einen Vortrag über
Lassalle's Leben und Wirken
improvisiren.
Inzwischen hatte längst der Abendzug die Station passirt. Die
erwarteten Packete und sozialistischen Schriften waren vom Heizer,
welcher sie unter den Kohlen verborgen gehabt hatte, unbemerkt an
die Vertrauensmänner abgeliefert worden.
Der Zug, befreit von seiner Kontrebande, brauste weiter; so war
auch hier „der Staat gerettet." m. u.