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„Der hier — das ist der Staatssekretär von 26., ich kenn' ihn
genau, Hab' ihn neulich, als ich auf der Zuhörertribüne des Parla-
ments war, eine halbe Stunde sprechen hören; er wies dort nach,
daß kein Nothstand existire, um den sich der Staat zu kümmern
brauche."
„Und dieser?" — fragte ein Anderer, „das ist der Kanalarbeiter
Lehmann; der arme Kerl ist seit vier Wochen arbeitslos; er wird
nichts gegessen und einen Schnaps getrunken haben; das hat ihn um-
geworfen."
Man brachte die beiden Bewußtlosen in die Destille, damit sie
nicht auf der Straße erfrieren sollten. Beide rührten sich nicht.
„Sind Sie endlich munter, Lehmann?"
„Merkwürdig, wie sie sich ähnlich sehen," riefen die Umstehenden
plötzlich, als man die beiden Gesichter beleuchtete.
In der That, der arme Kanalarbeiter und der Herr Staats-
sekretär hatten die gleiche Größe, ganz ähnliche Gesichtszüge, den-
selben Bart, dasselbe Haar. „Man braucht nur den Lehmann zu
frisiren und ihm die goldene Brille aufzusehen, dann ist er der
Staatssekretär," wurde scherzend bemerkt.
„Und der Andere der Kanalarbeiter; vielleicht glaubt er daun
an den Nothstand," hieß es.
„Wäre ein famoser Spaß, die Beiden zu vertauschen! Und wer
hindert uns, ihn auszuführen?"
„Ans Werk!"
Am andern Morgen wunderte sich der Herr Staatssekretär von 26.
höchlichst, als er auf hartem Pfühl in einer halbduntlen Schlafstelle
erwachte.
Er tastete nach der Klingel, aber es war keine da. So rief er
heftig nach seinem Diener.
Ein altes häßliches Weib steckte den Kopf zur Thüre herein.
„Sind Sie endlich munter, Lehmann?" fragte sie barsch. „Wer
wird sich so betrinken, wenn er vier Wochen Miethe schuldig ist?"
„Wo bin ich?" fragte Herr von 26. verdutzt.
„Jetzt ist der noch nicht nüchtern!" schalt die Alte. „Wo wird
Er sein? In der Schlafstelle ist Er bei der Mutter Meiern, die Ihn
an die Luft setzt, wenn Er noch einmal von seinen Saufkumpanen
Nachts betrunken nach Hause gebracht wird. Vorwärts, aufgestanden,
es hat geschneit, vielleicht werden Schneeschaufler gebraucht!"
Herr von 26. rieb sich die Augen. „Wo ist meine Börse, meine
Uhr, meine Brille?"
Die Alte schlug ein Gelächter auf. „Jetzt will der eine Börse
haben, nachdem er die Pfandscheine für die Uhr längst beim Bäcker
versetzt hat."
Sie schlug die Thüre zu und ging mit einem schweren
Wäschekorb die Treppe hinab. Der Staatssekretär wollte sich an-
kleiden, fand aber nur zerrissene Hosen, eine blaue wollene Jacke,
einen schmutzigen Arbeitsrock. In Ermangelung anderer Kleider
legte er diese an und ging auf die Straße. „Ich bin in eine
Räuberhöhle gerathen," sagte er sich, „und muß ausgeraubt wor-
den sein."
Er rief einen Droschkenkutscher an und befahl, derselbe solle ihn
sofort nach dem Ministerium des Innern fahren.
Der Rosselenker sah verächtlich auf den zerlumpten Menschen
herab und fragte: „Hast denn Du Geld?"
Herr von 36. verneinte. „Dann fopp' einen Andern," sagte der
Kutscher und fuhr davon.
Der Staatssekretär sprach nun den ersten besten eleganten Herrn
an, der ihm begegnete; er sei der Herr von X. und bitte, ihm das
Geld zu einer Droschke zu leihen.
Da wurde er aber schön abgefertigt! Das Bettelvolk werde
immer unverschämter, jetzt wolle es gar in der Droschke fahren! Da
sollte doch die Polizei energischer einschreiten u. s. w.
Nachdem er diese Antwort empfangen, wagte Herr von 26. Nie-
manden mehr anzusprechen. Er orientirte sich darüber, in welches
Stadtviertel man ihn geschleppt hatte und legte den weiten Weg nach
der inneren Stadt zu Fuß zurück.
Endlich betrat er das Portal des Ministergebäudes. Aber
da hielt ihn die Schildwache an. Was er hier wolle? wurde
gefragt.
„Ich bin der Staatssekretär von £.", erwiderte er mit Nachdruck.
Auf diese Behauptung hin wurde er vorläufig festgehalten. „Ein
ganz heruntergekommenes Individuum gebe sich für den Staats-
sekretär aus," wurde durch verschiedene Instanzen rapportirt. Diener-
schaft und Haushofmeister kamen und konstatirten: der Schwindler
sehe allerdings dem gnädigen Herrn von 26. ähnlich, besonders habe
er ganz dieselbe Sprache, dagegen trage der Staatssekretär eine Brille
und sehe natürlich nicht so ruppig aus. Auch könne der Fremde
mit dem Staatssekretär gar nicht identisch sein, denn Herr von 26.
sei in später Nachtstunde, geleitet von zwei fremden Herren, etwas
unpäßlich nach Hause gekommen; er befinde sich noch in seinem Schlaf-
zimmer und dürfe in solchen Fällen nicht gestört werden.
Nun wurde dem Staatssekretär die Sache zu bunt. Er wurde
grob und verlangte, augenblicklich zu dem unpäßlich nach Hause ge-
kommenen angeblichen Staatssekretär zugelassen zu werden. Die
Diener des Ministeriums waren aber nicht gewöhnt, sich von einem
in Lumpen gehüllten Menschen grob behandeln zu lassen. Sie warfen
ihn auf die Straße und drohten mit der Polizei.
Jetzt beschloß Herr von 26., irgend einen Freund aufzusuchen
und mit dessen Hilfe zu interveniren. Aber seine Freunde waren
noble Herren, die nicht ohne Weiteres für einen Menschen zu
„Der hier — das ist der Staatssekretär von 26., ich kenn' ihn
genau, Hab' ihn neulich, als ich auf der Zuhörertribüne des Parla-
ments war, eine halbe Stunde sprechen hören; er wies dort nach,
daß kein Nothstand existire, um den sich der Staat zu kümmern
brauche."
„Und dieser?" — fragte ein Anderer, „das ist der Kanalarbeiter
Lehmann; der arme Kerl ist seit vier Wochen arbeitslos; er wird
nichts gegessen und einen Schnaps getrunken haben; das hat ihn um-
geworfen."
Man brachte die beiden Bewußtlosen in die Destille, damit sie
nicht auf der Straße erfrieren sollten. Beide rührten sich nicht.
„Sind Sie endlich munter, Lehmann?"
„Merkwürdig, wie sie sich ähnlich sehen," riefen die Umstehenden
plötzlich, als man die beiden Gesichter beleuchtete.
In der That, der arme Kanalarbeiter und der Herr Staats-
sekretär hatten die gleiche Größe, ganz ähnliche Gesichtszüge, den-
selben Bart, dasselbe Haar. „Man braucht nur den Lehmann zu
frisiren und ihm die goldene Brille aufzusehen, dann ist er der
Staatssekretär," wurde scherzend bemerkt.
„Und der Andere der Kanalarbeiter; vielleicht glaubt er daun
an den Nothstand," hieß es.
„Wäre ein famoser Spaß, die Beiden zu vertauschen! Und wer
hindert uns, ihn auszuführen?"
„Ans Werk!"
Am andern Morgen wunderte sich der Herr Staatssekretär von 26.
höchlichst, als er auf hartem Pfühl in einer halbduntlen Schlafstelle
erwachte.
Er tastete nach der Klingel, aber es war keine da. So rief er
heftig nach seinem Diener.
Ein altes häßliches Weib steckte den Kopf zur Thüre herein.
„Sind Sie endlich munter, Lehmann?" fragte sie barsch. „Wer
wird sich so betrinken, wenn er vier Wochen Miethe schuldig ist?"
„Wo bin ich?" fragte Herr von 26. verdutzt.
„Jetzt ist der noch nicht nüchtern!" schalt die Alte. „Wo wird
Er sein? In der Schlafstelle ist Er bei der Mutter Meiern, die Ihn
an die Luft setzt, wenn Er noch einmal von seinen Saufkumpanen
Nachts betrunken nach Hause gebracht wird. Vorwärts, aufgestanden,
es hat geschneit, vielleicht werden Schneeschaufler gebraucht!"
Herr von 26. rieb sich die Augen. „Wo ist meine Börse, meine
Uhr, meine Brille?"
Die Alte schlug ein Gelächter auf. „Jetzt will der eine Börse
haben, nachdem er die Pfandscheine für die Uhr längst beim Bäcker
versetzt hat."
Sie schlug die Thüre zu und ging mit einem schweren
Wäschekorb die Treppe hinab. Der Staatssekretär wollte sich an-
kleiden, fand aber nur zerrissene Hosen, eine blaue wollene Jacke,
einen schmutzigen Arbeitsrock. In Ermangelung anderer Kleider
legte er diese an und ging auf die Straße. „Ich bin in eine
Räuberhöhle gerathen," sagte er sich, „und muß ausgeraubt wor-
den sein."
Er rief einen Droschkenkutscher an und befahl, derselbe solle ihn
sofort nach dem Ministerium des Innern fahren.
Der Rosselenker sah verächtlich auf den zerlumpten Menschen
herab und fragte: „Hast denn Du Geld?"
Herr von 36. verneinte. „Dann fopp' einen Andern," sagte der
Kutscher und fuhr davon.
Der Staatssekretär sprach nun den ersten besten eleganten Herrn
an, der ihm begegnete; er sei der Herr von X. und bitte, ihm das
Geld zu einer Droschke zu leihen.
Da wurde er aber schön abgefertigt! Das Bettelvolk werde
immer unverschämter, jetzt wolle es gar in der Droschke fahren! Da
sollte doch die Polizei energischer einschreiten u. s. w.
Nachdem er diese Antwort empfangen, wagte Herr von 26. Nie-
manden mehr anzusprechen. Er orientirte sich darüber, in welches
Stadtviertel man ihn geschleppt hatte und legte den weiten Weg nach
der inneren Stadt zu Fuß zurück.
Endlich betrat er das Portal des Ministergebäudes. Aber
da hielt ihn die Schildwache an. Was er hier wolle? wurde
gefragt.
„Ich bin der Staatssekretär von £.", erwiderte er mit Nachdruck.
Auf diese Behauptung hin wurde er vorläufig festgehalten. „Ein
ganz heruntergekommenes Individuum gebe sich für den Staats-
sekretär aus," wurde durch verschiedene Instanzen rapportirt. Diener-
schaft und Haushofmeister kamen und konstatirten: der Schwindler
sehe allerdings dem gnädigen Herrn von 26. ähnlich, besonders habe
er ganz dieselbe Sprache, dagegen trage der Staatssekretär eine Brille
und sehe natürlich nicht so ruppig aus. Auch könne der Fremde
mit dem Staatssekretär gar nicht identisch sein, denn Herr von 26.
sei in später Nachtstunde, geleitet von zwei fremden Herren, etwas
unpäßlich nach Hause gekommen; er befinde sich noch in seinem Schlaf-
zimmer und dürfe in solchen Fällen nicht gestört werden.
Nun wurde dem Staatssekretär die Sache zu bunt. Er wurde
grob und verlangte, augenblicklich zu dem unpäßlich nach Hause ge-
kommenen angeblichen Staatssekretär zugelassen zu werden. Die
Diener des Ministeriums waren aber nicht gewöhnt, sich von einem
in Lumpen gehüllten Menschen grob behandeln zu lassen. Sie warfen
ihn auf die Straße und drohten mit der Polizei.
Jetzt beschloß Herr von 26., irgend einen Freund aufzusuchen
und mit dessen Hilfe zu interveniren. Aber seine Freunde waren
noble Herren, die nicht ohne Weiteres für einen Menschen zu