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1495

Lieber Jacob!

Berlin, Ende Juni.

Nanu is Alles vorbei — nn Alles is jnt jeworden. Nu haben wir
mal jezcigt, wat wir können, un schstc, Jacob, wie ick nach de Wahlen
nff meine Bude so janz mit mir alleenc war, da habe ick mir vor den
Spiejel jestellt, habe mir mal orndtlich bekickt un bet kann ick Dir sagen,
lieber Jacob, ick kam mir höllisch forsch vor. Denn sonne Wahlschlacht
is so bald noch nich dajewesen un se hat doch jezeigt, bet wir schließlich
noch de Eenzijen sind, uff die wirklicher Verlaß is. Det jing wie een
mächtijer Sturm der Bejcisterung bis in de letzten Proletarierwohnungen
un wat nu noch von Berlin in feindliche Hände is, det is uns so sicher
verfallen, wie dreimal drei Reine is.

Ach, Herrjeses nee — det Birjerthum! Ick kann Dir blos sagen,
de jroßen Weißen wurden rebellisch un de Stammtische bäumten sich uff.
Nu dachten se, det de Rothen kämen un nu sollte det Theilen losjehen.
Een dicker Schlächtermeister wollte sein Portmonnaih bis uff den letzten
Blutsdroppen vertheidijen un alle olle Jungfern hatten ihre Sparkassen-
biechcr in de diefsten Diesen der Strohsücke verbuddelt, da wo et am
jraulichsten ist. Un se horchten alle uff de Straßen raus, denn sc jloobtcn nu
janz bestimmt, det jeden Oogcnblick de Revolution anricken würde, un det se
von det scheenc, ncic, dheire Asphaltflastcr nu Barrikaden bauen würden.

Sehste, Jacob, so jcht et in de Welt — der Eene hat den Beitel, der
Andere hat det Jeld. Ick Mn guictschvcrjniegt, det ick in die Dage nach
de Wahl nich in Eugen Richtern seine Haut jcstochen habe. Weeßte,
Jacob, ick wäre rausjefahren, un et wäre mir mehr wie schnuppe jc-
wescn, wenn Eener in det Fell eenen Knoten jemacht hätte, so det ick viel-
leicht jarnich wieder rin jefunfeen hätte. Lieber Jacob: lieber ohne Fell
rumloofen wie der jeschundene Raubritter, als wie so'n bejossener Pudel
so wie der jroßc Eugen. Wat nutzten ihm nu de Hundcrtdauscnde von
Irrlehren, die anjeblich von de Arbeeter jekooft waren, indem ihn det
Birjerthum so beese in'n Stich ließ. Lieber Jacob — derf ick mal poetisch
werden? Ick sehe Dir im Jcist nicken, also: „Ick hätte ferne mal je-
wlinscht, den Mann zu sehen, wie er saß mit vernichtendem Blick uff den
Trümmern von Karthago — nu bedank ick mir janz erjcbcnst davor,
denn ick habe de Reese voll!" So stell ick mir nämlich Eugen Richtern
vor, wie er Abends uff seine Freisinnije Zeitung saß un wie immer

een Unjlicksbote nach den anderen uff de Bildfläche erschien. Da haben
sich de Zeitungsjungen jlcichfalls die Reese zujehalten. Doch ieberlasscn wir
ihn seine Jetreien. Sie sind einander werth, wie de feinen Leite sagen,
un ick versteh ja ooch hochdcitsch, wenn ooch man mangelhaft, womit ick
verbleibe wie jcwöhnlich, erjebenst un mit ville Jricße Dein treicr

Jotthilf Raucke.

An'n Jörlitzer Bahnhof jleich links.

Hobrlspähnr.

Caprivi hatte geboten:

Es werde das Volk befragt.

Wie freuten sich drob die Rothen,

Sie haben ihm Antwort gesagt.

Er hört' es bang und grimmig,

Wie für die Rothen gab
Das Volk millioncnstimmig
Sein deutlich Votum ab.

Run, Kanzler, sei nicht böse.

Das ist so des Schicksals Lauf,

Und sei so gut und löse
Bald wieder den Reichstag auf.

Wer von sich behauptet, er hege Vaterlandsliebe, und er hilft
nicht mit, um das Vaterland von Militärlast und Reaktion zu befreien,
der ist ein Heuchler. * „ *

Was ist vom „Freisinn" noch geblieben?

Der Eugen hätt' es nie geglaubt:

Er zählt die Häupter seiner Lieben,

Und sieh', ihm fehlt manch' thcures Haupt.

„Himmel, wenn sic mich nur wieder gewählt hätten, umgefallen wäre
ich dann mit Leichtigkeit", sagte der Freisinnige, da fiel er durch.

Ihr getreuer Säge, Schreiner.

Bald plauderten sie, und vor km Mädchen
Mg Jacobus Leben, wie ein aufgcschlagenes Buch,
worin mit scharfem Griffel die Roth, die Ent-
sagung, der Hunger sich eingeschrieben hatten.
Auch ihr Schicksal war rasch erzählt, das Schicksal
des Mädchens ans den: Volke, das um sein täg-
liches Brot bei kurzem Lohne sich müht. Und
doch ivie war der Magister weltfremd und ent-
rückt in ein Rebelrcich, woraus keine Brücke zu
führen schien zu ihrem Dasein. Er aber hörte
zum ersten Male, daß sein Leid das Leid von
Millionen sei, daß sein Elend aus demselben Quell
entspringe ivie das der Ungezählten, die unter dem
Joche des Elends keuchen. Eine ganze Welt
unterdrückt, auf daß die Herrschenden im Golde
wühlen und im Genuß ersticken. So streifte ihn
der erste Athemzug eines neuen Lebens. Und die
Säulen seines Traumgelasses stürzte ein, das
Kreuz des Südens zerstob, aufschreiend flogen die
Avloretten davon, und sein Auge schärfte sich für
die grause Wirklichkeit, die ihn in Ketten und
Banden hielt, wie die Unzahl der Leidensgenossen,
bereu Mühe und Arbeit, deren Kampf und Leiden
sein blöder Blick bisher nicht erschaut hatte. War
er nicht ein schnöder Selbstling gewesen, daß er
viele Jahre achtlos an seinen Brüdern vorübcr-
geschritten war, die darbten, gleich ihm, aber nicht
in ihren Schmerz selbstsüchtig sich einwühlten, und
im wirren Spiel einer trügerischen Einbildungs-
kraft Vergessen suchten, sondern zu gemeinsamem
Streiten sich Zusammenschlüssen, für sich und ihre
Mitbrüder?

Schlicht und klar tönte des Mädchens Rede,
und jedes Wort riß ein Stück des Schleiers vom
Auge des Magisters Lämmchen. Der arme Schneider,
der neben ihm unterm Dache verkam mit vier
Kindern und der lungenkranken Frau, der Weber,
der unten im großen, dumpfen Saal der Fabrik,
die Mühseligen, die am Ambos in dem Funken-
gestöber schmiedeten und hämmerten, sie waren

wie er die Frohnknechte des allmächtigen Herrn,
der ihnen das Mark aus den Knochen, das Herz
ans dem Leibe, das Hirn aus dem Schädel stahl.
Jacobus war nun Eins mit ihnen.

„Heute Abend findet eine Versammlung unsrer
Freunde statt," sagte das Mädchen. „Kommt!"

Dicht drängten sich die Massen, nur mühsam
kam Jacobus mit seiner Begleiterin in den Saal.
Der Redner sprach hinreißend, die Versammlung
war fieberhaft erregt, und auch Jacobus gab sich
begeistert dem neuen Eindruck hin. Die Rede ist
beendet. Da reißt es den armen, verhungerten
Magister vorwärts. Ihn trägt etwas auf die
Rednerbühne. Er ist oben, er erhält das Wort.
Und vor ihm eine tauscndköpfige Menschenfluth;
ihm tanzen hunderttausend Lichter vor den Augen,
und er spricht. Kurz und einfach erzählt er sein
Loos, ivie er träumend cinhergcgangen, wie er
nun wisse, daß Kopfarbeiter und Handarbeiter
nur durch treues Zusammenhalten ihr Schicksal
wenden könnten. Nun ist er fertig, reicher Bei-
fall wird ihm gezollt, er hört ihn kaum.

Er ist daheim, wirst sich auf sein Lager und
schläft ein. Der erste Sonnenstrahl weckt ihn,
und da kommt die Post mit einem Brief.

Herrn Magister Jacobus Lämmchen.

Hierdurch die Mittheilung, daß Sie Ihre Thätigkeit
bei meiner Firma einzustellen haben. Ein königstreuer
Mann wie ich, der die Ordnung liebt, beschäftigt Niemand,
der in sozialdemokratischen Versammlungen öffentlich auf-
tritt und sich zu den Irrlehren dieser Umsturzpartei be-
kennt. Sie sind hiermit entlassen.

Bruno Kling ler, Buchdruckerei-Besitzer.

Mit weit aufgerissenen Augen starrt Jacobus
auf das verhängnißvolle Schreiben. Ein entsetz-
licher Schrei entringt sich seiner Brust, er taumelt
und fällt leblos zur Erde, — ein Herzschlag hat
seinem Leben ein Ende gemacht. Das Lamm war
von den Wölfen zerrissen.

Am 15. Juni wurde Jacobus Lämmchen zur
Erde bestattet. Unter den wenigen Leidtragenden

befand sich auch eine junge Arbeiterin, die einen
armseligen Kranz trug. Die letzten Schollen
waren auf den Sarg gefallen; die Abendsonne
überfluthete den Kirchhof, und der kleine Sand-
Hügel auf Jacobus Grab brannte in rothcm Feuer,
das sich weiter und weiter ausdchntc und schließlich
das ganze Firmament erfüllte. Leise erklangen
von fernher die Töne eines bekannten Arbeiter-
liedes, immer näher kam die singende Schaar
und bald darauf erbrauste cs mit voller Wucht:

Nicht mit dem Rüstzeug der Barbaren,

Mit Flint' und Speer nicht kämpfen wir.

Es führt zum Sieg der Freiheit Schaaren
Des Geistes Schwert, des Rechts Panier.

Daß Friede wallet, Wohlstand blüht.

Daß Freud' und Hoffnung hell durchglüht
Der Arbeit Heim, der Arbeit Leben,

Das ist das Ziel, das wir erstreben.

Eine Konsequenz.

Kriegervereinler: Was, Sic sind gegen
die Militärvorlage? Bedenken Sie doch, ohne
dieselbe holt uns der Franzose die letzte Kuh
aus dem Stalle.

Sozialist: Das wäre freilich schlimm für Sie.

Kriegervereinler: Warum speziell für mich?

Sozialist: Ra, wenn die letzte Kuh fort ist,
kommen die Ochsen an die Reihe.

Gerechte Strafe.

In der preußischen ReaktionSpolitik liegt eine
ausgleichende Gerechtigkeit. So lange das Volk
noch Rückschrittler wählt, bekommt es von der
Regierung Prügel, nämlich neue Schieß-
prügel. ——

In der stechen Iastreszcit.

Heiß war der Wahlkampf, heiser wurde
mancher Kandidat vom vielen Reden, aber am
heißesten war die Neugier der Wähler, wie die
Erwählten heißen.
 
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