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— f, l —

jEtm IahreKWuß. Ls

ie stolz und schön, Luropas Parlamente,

Wie stahlgepanzert wider jeden Hohn,

Zieht ihr auch diesmal an des Jahres Wende —

In jedem Zinn die Blüthe der Nation!

Der Wahrheit Zchwert gegürtet um die Lende,

Habt Ihr ein Anrecht auf der Tugend Lohn,

And nur die Kalligkeit kann sich erfrechen.

Von „morsch" und „hohl" und „Brüchigkeit" zu

sprechen.

V Lngland, freistes, frömmstes aller Lande,

An dessen Wall noch jede Fluth zerstob!

Du bist der Phönix, der aus jedem Brande
Lich neu verjüngt und farbenprächtig hob.

Kommt Kladdy erst mitHomerule noch zuZtande,

Bist Du erhaben über jedes Lob.

Nur einem ganz verbitterten Kemüthe
Zcheint's, daß er da auf einem Windei brüte.

Nur Dänemark erfüllt mein Herz mit Krauen;
Wovon bei uns ein Blaustrumpf höchstens träumt —
Das Inselreich hat wirklich seinen Frauen
Als erster Ltaat das Wahlrecht eingeräumt!

Nur wer von unverwüstlichem Vertrauen
Aus jeden „Fortschritt" förmlich überschäumt.

Lagt sich: „Wer weiß, es geht am Lnde glatter,
Mischt sich ins Krunzen fröhliches Geschnatter."

Italien lechzt nach seiner Zähne Liebe,

Was auch die Mißgunst schlangenzüngig sagt.
Hat es denn nicht das Aabinet der Diebe,

Das Aabinet Kiolitti, fortgejagt?

Nur wer bis zum Lxtrem die Ztrenge triebe.
Der hätte wohl mit gift'gem Zpott gefragt:
„Woher soll man Minister denn bekommen.
Die von den Banken niemals Geld genommen?"

Auch Deutschland lud die Ldelsten und Besten
Des ganzen Volkes zur Berathuug ein;

Der Reichstag wird uns von den letzten Resten
Partikularer Ztrebungen befrein.

Und klugen Zinns den Bau des Reiches festen
Durch neue Lteuern aus Tabak und Wein;
Lin Thor nur murrt, daß er im Zeichen —

wehe! —

Der Ahlwardt, Kanitz, Limburg-Ztyrum stehe.

Ls ist der Rührung demanthelle Zähre,

Die unwillkürlich mir ins Auge quoll.

Wo ist der Arme, der noch immer nähre
In seiner Brust den Zweifel und den Kroll?

Wenn dieses bischen Dänemark nicht wäre,

Wär' ich der laut'ren, höchsten Freude voll.

Wenn ich, daß Heil jedwedem Volk geschehe.

Die Wackern alle an der Arbeit sehe!

Aus Nebelschleiern taucht und Finsternissen
Dein Ztern, o Frankreich, durch des Zaren Kunst,
Und Hand in Hand mit ruhigem Kewissen
Keht still und friedlich die Regierungskunst.
Nur wer direkt und Hoffnunglos verbissen.
Nennt schamlos Alles eitel blauen Dunst,

Da man im Parlament nur die noch fände,
Die in Panama wuschen sich die Hände.

Für Vestreich werden bess're Tage kommen —
Ls giebt der Ltaat sich eine neue Form:

Lin Windischgrätz hat in die Hand genommen
Nit heil'gem Lrnst die nöth'ge Wahlreform,
Bei der KrafTaaffe jüngst bachab geschwommen-
Der Fortschritt wird unzweifelhaft enorm.

And nur die Nörgler deuten ohn' Lrmatten
Nach Robert Blum's, des Volksmanns, blut'gem

Lchatten.

Den StsatFrettern.

hr führt es mit geheimem Schauern,
Wie durch den Rekek trüb und feucht
Am Gchtöffer und um Kerkermaucrn
Gin morgenfrifcher Luftzug streicht.
Kommt ihr auch stolz einhergeschritten —
Kar oft steht ihr erkteichend still,

Ihr merkt, daß unter euren Tritten
Der tockere Boden weichen wilk.

Roch ragt ste hoch mit finstern Thürmen,
Die Zwingburg eures Kapitals,

Ihr müßt ste unabtäfstg schirmen
Mit tausend Spitzen btauken Stahts.
Jedoch was hat der Staht zu schaffen
Mit jenen Risten tief und breit,

Die in der Zwingburg Mauern klaffen,
Als fei der Ginsturz nicht mehr weit?

Zwar eure Schriftgelehrten preisen
Vortrefflich die Genügsamkeit
And reicher Sohn wird stets verheißen
Im Jenseits für dies Grdenleid.

Doch sieh, was wälzt sich auf den Gasten
Gleich wilder Mcercsfluth daher?

Das sind die Vroletariermasten,

Des Glends ungezähltes Heer!

Wer soll euch diese Zeichen deuten?

Wer glaubt ihr, daß so weise sei?

Ja, lauft nur zu den rechten Leuten,
Lauft nur zu eurer Volizei!

And fragt sie mit geheimen: Grausen,
Was euch zu thun, zu lasten frommt,

And ob der Sintffuth hohles Brausen
Roch mit euch oder nach euch kommt!

Die armen Bauern.

Den Junkern ist blutiges Unrecht geschehen.
Man hat ihre wirkliche Lage schnöde verkannt,
man hat sie ungerecht verurtheilt, und als Buß-
fertige gehen wir in uns und bitten die gekränkten
Ehrenmänner um Verzeihung.

Graf Kanitz hat im Reichstage das erlösende
Wort gesprochen, die Junker sind nichts als arme
Bauern. So ist es auch.

Wenn der Wanderer, mit scheuem Umblicke
nach schuauzenwüchsig-aufgebürsteten Perücken,
aus den fruchtbaren Gefilden Westdeutschlands
in das unfruchtbare Kartoffelgebiet Übertritt, wo
die Stärke gemacht, der Fusel gebrannt und der
Zucker gesotten wird, so schaut er sofort die im
tiefsten Elend versunkenen Großgrundbesitzer.

Eine Landstraße, kahl wie ein Artikel der
„Kreuzzcitung", dehnt sich vor dem Wanderer
aus; Meilensteine und Schlagbäume unterbrechen
kaum ihr ödes Einerlei. An der Grcnzscheide
Ostelbiens sitzt ein gramgebleichtcr, kummervoller
Greis. Durch die Lumpen, die seine Blöße kaum
decken, pfeift mitleidlos der Wind des neuen
Kurses, und vor ihm liegt ein vertrocknetes Stück
Brot, eingemickelt in den österreichisch-deutschen
Handelsvertrag. Du blickst den Alten nütleidig
an, und er bittet seufzend um eine milde Gabe.
Du reichst sie ihm weichherzig. „Wer bist Du,
Alter?" wirst du fragen. „Ich bin der Fürst
von Tiefenberg-Häringen, habe 43 Rittergüter mit
einem Grundsteuer-Reinertrag von 231307 Mark
und muß betteln gehen. Es langt nicht, lieber
Herr. Sehen Sie, der eine Sohn ist auf der
Reitschule in Hannover, der andere steht bei der
Garde in Potsdam, die Schwiegersöhne brauchen
doch auch. Und wo bleibe ich? Schlechte Zeiten!

0 dieser Caprivi!"

Wer die Straße nach Ostelbien weiter zieht,
wird noch viel Herzzerreißenderes erleben. Auf
unergiebigem Land, wo der leichte Boden kaum
Roggen trägt, steht eine windschiefe Hütte. Vor-
der Thür die Mistpfütze. Die Hülte selbst aus
Lehm und Fachwerk, die Wände geborsten; durch
die Risse zieht der Rauch ab, kein Schlot, keine
Fenster. Ein geflicktes Strohdach, ein Spielball
der Eleurente, krönt das Ganze. Drinnen balgen
sich Hühner, Schweine, Kinder. In der Ecke
hockt eine Alte und spinnt. Mann und Weib
sind vor den Pflug gespannt, zu Zugthieren
reicht's nicht, und rackern sich ab in Sommers-
gluth und Winterskälte. Die Kinder schaffeir inr

1 Felde, daß ihnen die Sehnen krachen. Mittags

wie Morgens und Abends, Kartoffeln und
Schnaps, Schnaps und Kartoffeln. Weißt du,
wer so wohnt, arbeitet, lebt? Das ist nicht der
ostelbische Landarbeiter, der ostelbische Kleinbauer,
llnterm geflickten Strohdach wohnen des Grafen
Kanitz arme Bauern, die Agrarier.

Jst's denn ein Wunder? Thut die Regierung
etwas für diese Unterdrückten? 3,50, 5, 7,50 Mark
Kornzoll, Aufhebung der Grund- und Gebäude-
steuer, Liebesgaben, Zuckerprämie können nicht
helfen, wo die Roth zum Gipfel gestiegen ist.
Wir wissen aus bester Quelle, daß die Armen
„bei lebendigem Leibe", man denke, verhungern
müssen. Rach einer Statistik des Landraths von
Schnabelweit auf Schnoddcrsheim sind in den
ersten acht Monaten des Jahres 1893 an Hunger-
krankheiten gestorben:

15 Latifundienbcsitzcr,

28 Besitzer von je über 5000 Hektar,

194 Grundeigenthümer mit je über 1000 Hektar.

Aus der amtlichen Attsnahme geht hervor, daß
diese Unglücklichen seit Jahrzehnten von der öffent-
lichen Wohlthätigkeit gelebt haben, daß sie Armen-
pfleglinge waren. Sie haben die Unterstützung
in Gestalt von Liebesgaben, Zöllen, Ausfuhr-
vergütungen erhalten und sind dabei jämmerlich zu
Grunde gegangen. So sorgt der Klassenstaat für
die Armen und Elenden, so läßt er die soziale und
ethische Kraftquelle der Nation mitleidslos versiegen.

Wer sich in das Innere des sterbenden Landes,
Ostelbiens nämlich, begiebt, begegnet unterwegs
großen Zügen von Auswanderern, hagern, ab-
gehärmten Männern, schwangeren Weibern, die
in einen: Tuche auf den: Rücken ein kleines Kind
mit sich schleppen, jungen Mädchen, denen die
harte Arbeit die Stirne gefurcht hat. Trüb ist ihr
Blick und stumpf ihr Sinn, schwerfällig schreiten
sie einher, bis zur nächsten Bahnstation pilgern
sie, wo sie in Viehwagen verladen und nach dem
Westen verschickt werden. In dem Bericht des
zur Prüfung dieser Angelegenheit abgeschickten Re-
gierungskommissärs, des Geheimraths v. Streber-
witz, heißt es, wie wir den Akten (Reg. v. P.

ad Num. entnehmen: „Die erbärmlichen

wirthschaftlichen Zustände treiben den Adel der öst-
 
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