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1618

Sylvester.

ur feierlichen Begehung des Jahresschlusses hielten die zwölf
Monate des Jahres 1893 eine Festsitzung ab. Der alte
würdige Dezember, welcher erst kürzlich vom Herzog von
Gerolstein zum Hofrath ernannt worden war, eröffnete die Sitzung
und übernahm den Vorsitz, der ihm, als dem gegenwärtig herrschenden
Monat, nach der Geschäftsordnung zukam.

„Meine Herren", sagte er, „ich danke Ihnen für ihr vollzähliges
und pünktliches Erscheinen. Sie geben dadurch dem deutschen Reichs-
tage, der die meiste Zeit beschlußunfähig ist, ein nachahmenswerthes
Beispiel. Wenn wir in dieser festlichen Stunde auf unsere Thätigkeit
zurückblicken, so können wir uns mit Befriedigung sagen, daß wir
unsere Schuldigkeit voll und ganz gethan haben. Wir haben in
Deutschland eine Militärvorlage und in Marokko sogar einen kleinen
Krieg zu Stande gebracht. Die Cholera und das Ministerium Taaffe
haben wir gebändigt, die Czechen mit dem Belagerungszustand beglückt
und den leichtgläubigen Parisern haben wir die Russen aufgebunden.
Auch in volkswirthschaftlicher Beziehung haben wir etwas geleistet.
In Chicago schufen wir eine große Weltausstellung, in Frankreich
einen noch größeren Panamaskandal und in der Polackei einen deutsch-
russischen Zollkrieg, der seines Gleichen zwar sucht, aber in der ganzen
Kulturwelt nicht findet. Wir haben den regelmäßigen Wechsel im preußi-
schen Kriegsministerium pünktlich vollzogen, haben den Herzog von
Magenta begraben und den Herzog von Lauenburg auf einige Zeit
zum Schweigen gebracht. Wir haben das preußische Agrarierthum so
gekräftigt, daß es lauter als jemals nach Beute schreien kann, und
zur Widerlegung der destruktiven sozialdemokratischen Lehren haben
wir eine große Anzahl von Anklagebänken und Gefängnißzellen zur
Verfügung gestellt. In der Kolonialpolitik übten wir weise Mäßigung,
indem wir es vermieden, große Truppen von Europäern nach Afrika
zu senden, da solche doch nur einen Druck auf die Lebensmittelpreise in
den Menschenfresserbezirken ausüben würden. Auch für die Schwarzen
in Deutschland wurde etwas gethan. Es wurde von einer Pfarrers-
köchin dem Zentrum ein neuer Führer geboren, welcher die sich
spaltenden Elemente wieder vereinigen wird, falls die Partei seine
Großjährigkeit erlebt. So können wir uns das Lob spenden, allen
Menschen Gutes gethan zu haben."

Diesen salbungsvollen Worten folgte lebhafte Zustimmung; der
steif dasitzende, aristokratische Januar strich seinen langen Schnurrbart
und nickte wohlgefällig, so daß ihm beinahe das Monocle aus der
Augenhöhle gefallen wäre; auch der neben ihm sitzende kleine dicke
Februar gab seinen Beifall kund, und der hagere, etwas schäbig aus-
sehende November stimmte den Wintermonaten in fast zudringlicher
Weise bei.

Der junge März aber stampfte wiederholt mit dem Fuße, schlug
mit der Faust auf den Tisch und schrie:

„Ich bitte ums Wort!"

Hofrath Dezember rümpfte die Nase und ertheilte dem Gemeldeten
das Wort mit dem Wunsche, er möge sich mäßigen, damit die Debatte
ihren würdigen Verlauf nehme.

„Ich verwahre mich gegen diese Schillmeisterei!" rief der März.
„Schlimm genug, daß die Menschen kein Wort reden oder schreiben
können, ohne daß der überwachende Gendarm oder der strafantrag-
stellende Staatsanwalt dahinter sitzt. Wir Frühlingsmonate lassen
uns solche mittelalterliche Beschränkungen nicht gefallen! Ich ver-
ivahre mich überhaupt gegen den ganzen schönfärberischen Bericht, den
der Herr Hofrath über unser Jahr erstattet hat. Er schämt sich nicht,
die Militärvorlage und Aehnliches als eine Errungenschaft hinzu-
stellen und er verschweigt vollständig, was znm Wohle der Allgemeinheit
hätte geschehen sollen, aber schändlicher Weise unterlassen wurde.

„Da fange ich gleich bei meinem hochnäsigen Kollegen, dem Herrn
von Januar an! Er hat kalte Tage und Arbeitslosigkeit gebracht,
aber es fiel ihm gar nicht ein, auch ausreichende Hilfe für die Noth-
leidenden zu bringen. Er zahlte Liebesgaben, aber an die großen
Schnapsbrenner, damit sich ihre Rente nicht schmälere; aber ob der
Lohn des Arbeiters geschnlälert wird, ob der Arbeitslose Noth leidet,
das kümmert den Herrn von Januar nicht. Er ging über den Noth-
stand vornehm hinweg und füllte die Tagesordnungen seiner Parla-
mentssihungen mit Militärvorlagen und anderen schädlichen Dingen.
Aehnlich hat es der Herr Kommerzienrath Februar getrieben; er be-
suchte Bälle und Redouten, setzte die Narrenkappe auf und hielt
Alle zum Narren, die glaubten, er werde dem Volke etwas Niitzliches
bringen."

Der Präsident griff zur Glocke.

„Ich kann nicht dulden", sagte er, „daß der Redner in diesem
Tone fortfährt. Er beschuldigt Mitglieder des Kollegiums in un-
qualifizirbarer Weise —"

„Er spricht die Wahrheit!" rief der Mai, ein schön gewachsener
Jüngling, muthig dazwischen.

„Ich bin bald fertig", fuhr der März fort. „Aehnlich wie die
beiden Vorgenannten haben es die meisten anderen Monate getrieben.
Mein Parteigenosse, der Mai, hat sich redlich bemüht, den Arbeitern
wenigstens den Achtstundentag zu bringen, er hat auch in anerkennens-
werthester Weise die Militärvorlage abgelehnt; der Juni hat sich
verdient gemacht, indein er die sozialdemokratische Fraktion des
deutschen Reichstags verstärkte, aber das Gute, was die beiden
geleistet haben, ist nicht zum Durchbruch gekommen, die abgelehnte
Militärvorlage ist Gesetz geworden und der Achtstundentag wird
verweigert, während es umgekehrt sein müßte. Die übrigen Monate
haben überhaupt nichts geleistet; Juli und August bilden sich ein, sie
lebten noch zur Zeit der römischen Kaiser, von denen ihre Namen
herstammen; indifferent gegen alles politische Leben, schwelgen sie in
Luxusbädern oder werfen Touristen von den Bergen herunter; weiter
hört man von ihnen nichts. Der Oktober ist nicht zu rechnen; seine
rothe Nase beweist uns schon, daß er selten nüchtern ist. Er liegt
in den Weinkellern herum und hat Heuer wieder einen französisch-
russischen Rausch gehabt, der skandalös war. Der November zählt
sich mit Recht zu den Dunkelmännern; als Freund des Nebels und
der Finsterniß hat er die Steuerbewilligungs-Session des deutschen
Reichstags eröffnet — kurz, die reaktionären vormärzlichen Monate
taugen nichts. Aber hütet Euch! Ich, der März, bin da! Ich habe
 
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