1635
Der Bureauvorstand erkundigte sich ganz erschrocken, was ge-
schehen sei?
„Die Akten Hohenstein contra Lämmermann," sagte der Chef
mit strenger Betonung, „sind vorgestern wohlverpackt hier nieder-
gelegt worden; Niemand hat Erlaubniß gehabt, sie anzurühren; jetzt
liegen sie lose da und sind augen-
scheinlich von Jemand durchge-
schnüsfelt worden. Wer hat das
Aktenbündel geöffnet?"
„Ich," sagte Hungerlein.
Aller Augen richteten sich auf
den verwegenen Schreiber; der Chef
trat ihm mit zornfunkelndem Blicke
näher.
„Wie konnten Sie sich das
unterstehen?"
„Ich brauchte den Strick, mit
dem die Dinger zusammengebunden
waren," bemerkte Hungerlein.
„Dumme Ausrede! Wozu hät-
ten Sie einen Strick gebraucht?"
„Zum Hängen; das Verhun-
gern dauert mir zu lange," sagte
der Schreiber.
Der Chef war sprachlos vor
Zorn.
„So redet er heute immer,"
äußerte der Bureauvorstand.
„Mich hat er auch schon
angeschnauzt," fügte der ältere
Kollege Hungerleins hinzu.
„Der Hungerlein hat Jeman-
den angeschnauzt?" fragte ein
Rechtspraktikant verwundert. „Da
geht die Welt unter, oder Hunger-
lein hat eine Goldmine entdeckt."
Herr Ohrhauer wühlte inzwischen hastig in den Akten Hohenstein
contra Lämmermann und nahm einige Blätter an sich. Das Andere
befahl er sofort in sein Kabinet zu bringen.
Als dieser Befehl erfüllt und die beiden Chefs allein waren,
stieß Ohrhauer einen grimmigen Fluch aus.
„Mit den Akten ist etwas vorgegangen," sagte er nachdrücklich.
„Da hat Jemand seine Hände drin gehabt."
„Das wäre fatal," meinte der dicke Schnapp.
„Freilich wäre es fatal; wenn Blatt 11 und Blatt 18 unserer
Akten zur richterlichen Kenntniß gelangen, dann verlieren wir den
Prozeß und kommen noch obendrein wegen illoyaler Handlungs-
weise vor die Anwaltskammer."
„Sind denn die fraglichen Blätter noch da?" er-
kundigte sich Schnapp.
„Freilich, aber sie können kopirt worden sein,
erklärte Ohrhauer. „Und das kann nur dieser
Duckmäuser, der Hungerlein, gethan haben.
„Wie käme er auf einen solchen Ein-
fall?"
„Na, die Zeitungen sind ja voll von
den Einzelnheiten dieser Prozeßgeschichte,
und er gesteht selbst ganz keck zu, daß er
die Akten geöffnet; nur meint er, es sei
ihm blos um den Strick zu thun gewesen,
er hätte sich aufhängen wollen. Lächerlich!
Wenn er gestern einen Strick zum Hängen ge
braucht hätte, säße er heute nicht im Bureau."
„Das ist richtig," bestätigte Schnapp. „Aber
was ist zu thun?"
Ohrhauer zuckte die Achseln. „Wenn wir ihn fort
jagen, läuft er direkt ins feindliche Lager. Nach seinen
Redensarten—er prahlt damit, daß er verhungern müsse—
scheint er es aus eine Gehaltszulage abgesehen zu haben
Wer hat das Aktenbündel geöffnet?"
„Die könnte man ihm ja geben," meinte Schnapp.
„Jedenfalls muß die Sache geregelt werden," entschied Ohr-
hauer und pflog zunächst noch eine Unterredung mit dem Bureau-
vorstand, dann wurde Hungerlein in das Allerheiligste, nämlich
in das Kabinet der Prinzipale berufen.
Fast verließ ihn jetzt sein Muth
und er konnte nicht umhin, einen
kleinen Bückling zu machen, als er
eintrat.
„Hungerlein!" sagte Ohrhauer
nicht ohne Milde im Ton. „Wir
haben Ihren Antrag auf Gehalts-
erhöhung erwogen und waren nicht
abgeneigt. Ihnen etwas zu be-
willigen. Wir hatten es gut mit
Ihnen vor; es ist nöthig, für die
dritte und vierte Schreiberstube
einen zweiten Bureauvorstand zu
installiren und wir hatten für die-
sen Posten Sie ins Auge gefaßt.
Aber —"
Hungerlein hatte mit freudi-
gem Staunen gehört, was ihm
Gutes winkte; bei dem gewichtigen
„Aber" des Chefs sank ihm aufs
Neue der Muth.
„Aber," fuhr Ohrhauer fort,
„es liegt gegen Sie der Verdacht
eines schweren Vertrauensbruches
vor. Sie haben sich an den Akten
Hohenstein contra Lämmermann
vergriffen, haben ohne Erlaubniß
Einsicht genommen —"
Hungerlein beeilte sich, zu er-
klären, daß ihm kein Wort von
den bewußten Akten bekannt sei.
„Gut," sagte Ohrhauer ein wenig hastig. „Wenn es wirklich so
ist, dann können Sie einen Revers unterzeichnen, laut welchem Sie
niemals von irgend einem Theile dieser Akten Kenntniß nahmen und
alle gegentheiligen Behauptungen, auch wenn sie von Ihnen selbst
aufgestellt würden, boshafte Erfindungen wären."
Hungerlein beeilte sich, seine Bereitwilligkeit hierzu kundzu-
geben; der Revers war auch schon zur Stelle und wurde unter-
schrieben.
Ohrhauer war zufrieden. „Es steht nun Ihrer Anstellung als
zweiter Vorstand nichts mehr im Wege; bedenken Sie aber, daß Sie
in einer solchen Stellung immer nur das Interesse Ihrer Chefs im
Auge haben müssen und in schwere Strafe fallen würden, wenn Sie
etwas thun, was gegen dieses Interesse verstößt."
Der dicke Schnapp bestätigte die Worte seines Kollegen durch
Kopfnicken und die Einzelheiten wurden zu höch-
ster Zufriedenheit Hungerleins geregelt. Er be-
kam einen auskömmlichen Gehalt zugesichert
und sogar einen Vorschuß, um sich seiner
neuen Würde gemäß etwas nobler auszu-
staffiren.
„Wir haben uns überzeugt," sagte Ohr-
hauer gnädig, „daß es Ihnen an Umsicht
und Energie bei gutem Willen nicht fehlt, des-
halb vertrauen wir Ihnen diesen Posten an."
Hungerlein war entzückt von solcher Wir-
kung seiner Grobheitsprobe, wenn er auch den
Zusammenhang der ganzen Affaire nie ganz
begriff. Den Strick hat er sich zum Andenken
ausgehoben, aber ans Hängen und Ersäufen denkt
er nicht mehr. Sein Selbstbewußtsein ist bedeutend
gehoben und grob ist er oft wie Bohnenstroh, seit er
erfahren hat, daß man mit der Grobheit im bureaukratischen
Leben manchmal weiter kommt, als mit allen Bücklingen.
Der Bureauvorstand erkundigte sich ganz erschrocken, was ge-
schehen sei?
„Die Akten Hohenstein contra Lämmermann," sagte der Chef
mit strenger Betonung, „sind vorgestern wohlverpackt hier nieder-
gelegt worden; Niemand hat Erlaubniß gehabt, sie anzurühren; jetzt
liegen sie lose da und sind augen-
scheinlich von Jemand durchge-
schnüsfelt worden. Wer hat das
Aktenbündel geöffnet?"
„Ich," sagte Hungerlein.
Aller Augen richteten sich auf
den verwegenen Schreiber; der Chef
trat ihm mit zornfunkelndem Blicke
näher.
„Wie konnten Sie sich das
unterstehen?"
„Ich brauchte den Strick, mit
dem die Dinger zusammengebunden
waren," bemerkte Hungerlein.
„Dumme Ausrede! Wozu hät-
ten Sie einen Strick gebraucht?"
„Zum Hängen; das Verhun-
gern dauert mir zu lange," sagte
der Schreiber.
Der Chef war sprachlos vor
Zorn.
„So redet er heute immer,"
äußerte der Bureauvorstand.
„Mich hat er auch schon
angeschnauzt," fügte der ältere
Kollege Hungerleins hinzu.
„Der Hungerlein hat Jeman-
den angeschnauzt?" fragte ein
Rechtspraktikant verwundert. „Da
geht die Welt unter, oder Hunger-
lein hat eine Goldmine entdeckt."
Herr Ohrhauer wühlte inzwischen hastig in den Akten Hohenstein
contra Lämmermann und nahm einige Blätter an sich. Das Andere
befahl er sofort in sein Kabinet zu bringen.
Als dieser Befehl erfüllt und die beiden Chefs allein waren,
stieß Ohrhauer einen grimmigen Fluch aus.
„Mit den Akten ist etwas vorgegangen," sagte er nachdrücklich.
„Da hat Jemand seine Hände drin gehabt."
„Das wäre fatal," meinte der dicke Schnapp.
„Freilich wäre es fatal; wenn Blatt 11 und Blatt 18 unserer
Akten zur richterlichen Kenntniß gelangen, dann verlieren wir den
Prozeß und kommen noch obendrein wegen illoyaler Handlungs-
weise vor die Anwaltskammer."
„Sind denn die fraglichen Blätter noch da?" er-
kundigte sich Schnapp.
„Freilich, aber sie können kopirt worden sein,
erklärte Ohrhauer. „Und das kann nur dieser
Duckmäuser, der Hungerlein, gethan haben.
„Wie käme er auf einen solchen Ein-
fall?"
„Na, die Zeitungen sind ja voll von
den Einzelnheiten dieser Prozeßgeschichte,
und er gesteht selbst ganz keck zu, daß er
die Akten geöffnet; nur meint er, es sei
ihm blos um den Strick zu thun gewesen,
er hätte sich aufhängen wollen. Lächerlich!
Wenn er gestern einen Strick zum Hängen ge
braucht hätte, säße er heute nicht im Bureau."
„Das ist richtig," bestätigte Schnapp. „Aber
was ist zu thun?"
Ohrhauer zuckte die Achseln. „Wenn wir ihn fort
jagen, läuft er direkt ins feindliche Lager. Nach seinen
Redensarten—er prahlt damit, daß er verhungern müsse—
scheint er es aus eine Gehaltszulage abgesehen zu haben
Wer hat das Aktenbündel geöffnet?"
„Die könnte man ihm ja geben," meinte Schnapp.
„Jedenfalls muß die Sache geregelt werden," entschied Ohr-
hauer und pflog zunächst noch eine Unterredung mit dem Bureau-
vorstand, dann wurde Hungerlein in das Allerheiligste, nämlich
in das Kabinet der Prinzipale berufen.
Fast verließ ihn jetzt sein Muth
und er konnte nicht umhin, einen
kleinen Bückling zu machen, als er
eintrat.
„Hungerlein!" sagte Ohrhauer
nicht ohne Milde im Ton. „Wir
haben Ihren Antrag auf Gehalts-
erhöhung erwogen und waren nicht
abgeneigt. Ihnen etwas zu be-
willigen. Wir hatten es gut mit
Ihnen vor; es ist nöthig, für die
dritte und vierte Schreiberstube
einen zweiten Bureauvorstand zu
installiren und wir hatten für die-
sen Posten Sie ins Auge gefaßt.
Aber —"
Hungerlein hatte mit freudi-
gem Staunen gehört, was ihm
Gutes winkte; bei dem gewichtigen
„Aber" des Chefs sank ihm aufs
Neue der Muth.
„Aber," fuhr Ohrhauer fort,
„es liegt gegen Sie der Verdacht
eines schweren Vertrauensbruches
vor. Sie haben sich an den Akten
Hohenstein contra Lämmermann
vergriffen, haben ohne Erlaubniß
Einsicht genommen —"
Hungerlein beeilte sich, zu er-
klären, daß ihm kein Wort von
den bewußten Akten bekannt sei.
„Gut," sagte Ohrhauer ein wenig hastig. „Wenn es wirklich so
ist, dann können Sie einen Revers unterzeichnen, laut welchem Sie
niemals von irgend einem Theile dieser Akten Kenntniß nahmen und
alle gegentheiligen Behauptungen, auch wenn sie von Ihnen selbst
aufgestellt würden, boshafte Erfindungen wären."
Hungerlein beeilte sich, seine Bereitwilligkeit hierzu kundzu-
geben; der Revers war auch schon zur Stelle und wurde unter-
schrieben.
Ohrhauer war zufrieden. „Es steht nun Ihrer Anstellung als
zweiter Vorstand nichts mehr im Wege; bedenken Sie aber, daß Sie
in einer solchen Stellung immer nur das Interesse Ihrer Chefs im
Auge haben müssen und in schwere Strafe fallen würden, wenn Sie
etwas thun, was gegen dieses Interesse verstößt."
Der dicke Schnapp bestätigte die Worte seines Kollegen durch
Kopfnicken und die Einzelheiten wurden zu höch-
ster Zufriedenheit Hungerleins geregelt. Er be-
kam einen auskömmlichen Gehalt zugesichert
und sogar einen Vorschuß, um sich seiner
neuen Würde gemäß etwas nobler auszu-
staffiren.
„Wir haben uns überzeugt," sagte Ohr-
hauer gnädig, „daß es Ihnen an Umsicht
und Energie bei gutem Willen nicht fehlt, des-
halb vertrauen wir Ihnen diesen Posten an."
Hungerlein war entzückt von solcher Wir-
kung seiner Grobheitsprobe, wenn er auch den
Zusammenhang der ganzen Affaire nie ganz
begriff. Den Strick hat er sich zum Andenken
ausgehoben, aber ans Hängen und Ersäufen denkt
er nicht mehr. Sein Selbstbewußtsein ist bedeutend
gehoben und grob ist er oft wie Bohnenstroh, seit er
erfahren hat, daß man mit der Grobheit im bureaukratischen
Leben manchmal weiter kommt, als mit allen Bücklingen.