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1643

„Siehst Du", fuhr Fritze fort, „wie ick vorhin in bet jroße Herr-
schaftshaus da drüben in Bekehrungsanjelefenheeten thätig war —
ick kehrte nämlich den Hof —, da schmeißt mir een Stubenmädel den
Inhalt eenes Papierkorbs vor de Beene und sagt, ick sollte det man
mitnehmen. Ick betrachte det mir zujefallene Strandjut und siehe da,
ick finde, det ick zum Lumpenball injeladen werde, indem det Schicksal
an mir diese Karte richtet. Unser Kostüm wird wohl ooch lumpig
jenug sind, also — jehn wir hin!"

August hatte noch einige Bedenken, die sich aber mit der philo-
sophischen Bemerkung: „mehr als rausjeschmissen kann man doch
nich werden", widerlegen ließen, nachdem Fritze noch bemerkt hatte,
daß ein ihm befreundeter Droschkenkutscher sie standesgemäß nach dem
Balllokale fahren werde.

In Erwartung der Ballfreuden griffen die beiden Schneeschaufler

wieder rüstig zu ihrem Werkzeug und setzten ihre bahnbrechende

Arbeit fort. * *

*

Der Portier lachte über diesen Scherz und wandte sich an
August.

„Det is mein Freund", sagte Fritze, „wenn Sie seine Karte
haben wollen, da müssen Sie eenen Stiebelknecht bringen, denn der hat
sie einstweilen als Brandsohle injelegt, det ihm det verwünschte Thau-
wetter die Hühneroogen nich überschwemmen soll."

Der Portier ließ sie passiren, ohne die zweite Karte zu ver-
langen.

Im Saale machten die Beiden großen Effekt und erregten sogar
die Aufmerksamkeit von Kennern.

„Das ist wahrer Realismus", sagte ein Schriftsteller zu einem
Schauspieler. „An diesen beiden Masken ist jeder Zug echt. Diese
Kostüme haben nichts künstlich Hergerichtetes, sie sehen aus, als ob
sie noch eben draußen auf der Straße getragen worden wären, und
die beiden Träger passen sich so korrekt ihrer Rolle an, als ob es
ihnen ein Leichtes wäre, solche unförmliche Stiefel zu tragen und sich
mit solchen Hüten zu bedecken. Der ganze Gang, jede Bewegung ist
ungezwungen und natürlich."

Der Schauspieler mußte diesem Urtheil beistimmen und man

erwog, wer die beiden Mas-
ken wohl sein könnten.

Diese hatten inzwischen
auch Gelegenheit, ihren
Mutterwitz zu erproben.
Eine Dame rief ihnen zu,
es sei ein Zug im Schnee
stecken geblieben, sie sollten
eilen, ihn frei zu machen.

„Nee, Madameken", ant-
wortete Fritze. „Heute nich;
aber wenn Sie vielleicht
nach 'n Blocksberg verreisen
wollen, dann will ick Ihnen
meinen Besen leihen."

„Die Umstehenden bra-
chen in Gelächter aus. „Ga-
lant sind Sie nicht", sagte
Einer.

„Will ick ooch nich —
die jalanten Lumpen sind
die schlimmsten", replizirte
Fritze.

Er trat an einen Tisch,
an welchem bekannte Bör-
seaner saßen, die sich mit be-
wußter Selbstironie als Räuber verkleidet hatten. Hier nahm Fritze
ohne Weiteres eine Flasche und schenkte für sich und seinen Ge-
fährten zwei Gläser voll.

„Prost, Ihr Lumpen!" rief er und trank. Die „Räuber" ver-
standen Spaß und stießen mit den Straßenkehrern an.

„So is et recht", sagte Fritze, „wer wejelagert, der darf et mit
die Straßenreinijer nich verderben."

„Ein origineller Kauz", hieß es. und man hatte nichts dagegen
einzuwenden, daß die Beiden am Tische Platz nahmen. „Wahrschein-
lich Künstler", flüsterte man sich zu, auf die ungezwungene Art der
beiden Masken Bezug nehmend.

Im klebrigen ließ man sich in der Unterhaltung nicht stören.

„Der Stadtrath Rumpler ist auch anwesend — mit seiner heim-
lichen Flamme, der kleinen Hulda", wurde erzählt.

„So, so — was würde dazu seine Frau sagen!" bemerkte einer
der „Räuber".

„Sie glaubt ihn in einer Aufsichtsraths-Sitzung der Bodenkredit-
Aktiengesellschaft."

„Die gute Seele!"

Fritze hatte dieses halblaut geführte Gespräch genau verfolgt
und seine suchenden Blicke entdeckten Ruinpler, der, als Scharfrichter
gekleidet, an der Seite einer lustigen Zigeunerin saß.

„Na warte, den koof ick mir", flüsterte Fritze seinem Freunde zu.

Es wurden Speisen an den Tisch gebracht — Hasenbraten,
Geflügel u. s. w. Fritze und August griffen ohne Weiteres zu.

Der Lumpenball, eines der sensationellsten Ereignisse des Karne-
vals, hatte begonnen. In den hocheleganten, phantastisch geschmückten
Räumen des Ballhauses be-
wegte sich eine überaus aben-
teuerliche Gesellschaft. Da
sah man den Einbrecher mit
Diebslaterne und Brech-
stange, einen Bund Dietriche
mit sich führend; Bauern-
fänger in schäbiger Eleganz,
aus deren Taschen die Kar-
tenblätter lugten; furchtbare
Räuber mit Dolchen und
Pistolen, besonders aber
viele ehrliche „Lumpen",

Handwerksburschen, Bettler,
kroatische Topfbinder und
Gestalten in allerlei zerrisse-
nen, zerlumpten Kostümen,
die keinen besonderen Cha-
rakter vorstellten. „Wer
Lumpen trägt, ist als Lump
zu betrachten" — diesem
spießbürgerlichen Grundsatz
waren die meisten der Theil-
nehmer gefolgt; aber auch
die Obrigkeit fehlte unter Fritze setzte sich auf einen Stuhl, zog einen Stiefel halb aus u. f. w.

den Masken nicht; Bettel-
vögte, Landgendarmen, Büttel u. s. w. gingen gravitätisch umher und |
arretirten hier und da unter großem Halloh einen Handwerksburschen,
welcher freventlichen Widerstand gegen die Staatsgewalt leistete. Bei
solchen Bällen zeigt die Bourgeoisie einiges Verständniß für das Elend
der Armen, welches sie den übrigen Theil des Jahres leugnet und sie
persiflirt unbewußt ihre „göttliche Weltordnung".

Auch das weibliche Element war auf diesem Balle vertreten.

Bettlerinnen, Zigeunerinnen und ähnliche Spezies gab es in ziem-
licher Auswahl, doch schien es nicht der solideste Theil der Damen-
welt zu sein, der an diesem Feste theilnahm.

Vor dem Ballhause hatte sich eine zahlreiche, schaulustige Menge
versammelt, welche die ankommenden Lumpen musterte und kritisirte.

Diese Menge brach in Beifallsjubel aus, als jetzt zwei groteske
Gestalten einer Droschke entstiegen und das Portal betraten. Es
waren zwei Straßenkehrer mit langen Besen, die sie über die Achsel
geschultert trugen. Schwere Wasserstiefeln, schmutzige Hosen, zerrissene
Röcke, darunter gestrickte Wolljacken, und Hüte, welche in Wind und
Wetter die abenteuerlichsten Farben und Formen angenommen hatten
— dies war das Ballkostüm der Ankommenden, in welchen wir die
beiden Schneeschaufler Fritze und August erkennen.

„Ihre Karten, meine Herren!" sagte der Portier am Eingang
des Saales höflich.

Fritze setzte sich auf einen Stuhl, zog einen Stiefel halb aus
und brachte aus demselben die zerknitterte Eintrittskarte hervor, die
er nun gravitätisch überreichte.
 
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