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1687

diese Völker die verschiedensten Zivilisationsstufen, von der (durch Deutsche)
auf einen ziemlich hohen Grad entwickelten inodernen Industrie und
Bildung Böhmens bis herab zu der fast nomadischen Barbarei der Kroaten
und Bulgaren, und in der Wirklichkeit haben alle diese Nationen daher
die entgegengesetztesten Interessen. In der Wirklichkeit besteht die slavische
Sprache dieser zehn bis zwölf Nationen aus ebenso viel meist einander
■ unverständlichen Dialekten, die sich sogar auf verschiedene Hauptstämme
(tschechisch, illyrisch, serbisch-bulgarisch) reduziren lassen, die durch die
gänzliche Vernachlässigung aller Literatur und die Rohheit der meisten
Völker zu reinen Patois geworden sind und die mit wenig Ausnahmen
stets eine fremde nichtslavische Sprache als Schriftsprache über sich hatten.
Die panslavistische Einheit ist also entweder eine reine Schwärmerei, oder
aber — die russische Knute.

So schrieb die „Neue Rheinische Zeitung" in der Mitte des Januar
1849. Einen Monat später kam sie
in zwei Aufsätzen, die, wenn der
Stil uns nicht täuscht, von Engels
verfaßt sind, aus den demokrati-
schen Panslavismus zurück, dessen
Programm Michael Bakunin in
einem „Aufruf an die Slaven"
veröffentlicht hatte. Sie sindet in
diesem Programm die schwärme-
rische, aber inhaltslose Begeisterung
der ersten Monate nach der Revo-
lution wieder. Von den Hinder-
nissen einer allgemeinen Völker-
befreiung, von den so durchaus ver-
schiedenen Zivilisationsstufen und
den dadurch bedingten ebenso ver-
schiedenen politischen Bedürfnissen
der einzelnen Völker ist keine Rede.

Das Wort „Freiheit" ersetzt das
Alles. Soweit die Wirklichkeit
etwa in Betracht kommt, wird sie
als etwas absolut Verwerfliches von
„Despotenkongressen" und „Diplo-
maten" willkürlich Hergestelltes ge-
schildert. Dieser schlechten Wirk-
lichkeit gegenüber tritt der angeb-
liche Volkswille mit seinem katego-
rischen Imperativ, mit der ab-
soluten Forderung der „Freiheit"
schlechtweg. Gerechtigkeit, Mensch-
lichkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüder-
lichkeit, Unabhängigkeit — das ist
der Inhalt des panslavistischen
Manifestes, aber diese mehr oder
weniger moralischen Kategorien, die
sehr schön klingen, beweisen in histo-
rischen und politischen Fragen durchaus nichts. Und dennoch kommen
sie uns heute, so ruft die „Neue Rheinische Zeitung" aus, iin Januar
1849, noch mit denselben alten Phrasen, über deren Inhalt West-
europa durch die blutigste Kontrerevolution enttäuscht wurde. Uebrigens
hatten Marx und Engels schon lange vor der Revolution die Theorie
der allgemeinen Völkerverbrüderung, die ohne Rücksicht auf die histo-
rische Stellung, auf die gesellschaftliche Entwicklungsstufe der einzelnen
Völker weiter nichts wollte, als verbrüdern ins Blaue hinein, gegen-
über den englischen und französischen Demokraten bekämpft.

Die „Neue Rheinische Zeitung" verkennt nicht, daß der demo-
kratische Panslavismus auch seinen Grund hat. Sie sagt darüber:

Bemerken wir zuerst, daß die politische Romantik und Sentimentalität
bei den Demokraten des Slavenkongresses sehr zu entschuldigen ist. Mit
Ausnahme der Polen — die Polen sind nicht panslavistisch, aus sehr
handgreiflichen Gründen — gehören sie allen Völkerstämmen an, die entweder,
wie die Südslaven, durch ihre ganze geschichtliche Stellung nothwendig
kontrerevolutionär sind, oder die wie die Russen von einer Revolution
noch weit entfernt und daher wenigstens vorderhand noch kontrerevolutionär
sind. Diese Fraktionen, demokratisch durch ihre im Auslande erworbene

Ludwig Uossuth.

Bildung, suchen ihre demokratische Gesinnung mit ihrem Nationalgefühl,
das bei den Slaven bekanntlich sehr ausgeprägt ist, in Harmonie zu
bringen, und da die positive Welt, die wirklichen Zustände ihres Landes
keine oder nur fingirte Anknüpfungspunkte für diese Versöhnung boten,
so bleibt ihnen nichts als das jenseitige „Luftreich des Traumes", das
Reich der frommen Wünsche, die Politik der Phantasie. Wie schön wäre
es, wenn Kroaten, Panduren und Kosaken das Vordertreffen der europäischen
Demokratie bildeten, wenn der Gesandte der Republik Sibirien in Paris
seine Kreditive überreichte! Gewiß sehr erfreuliche Aussichten, aber daß
die europäische Demokratie auf ihre Verwirklichung warten soll, wird doch
selbst der begeistertste Panslavist nicht verlangen •— und vorderhand sind
gerade die Nationen, deren spezielle Unabhängigkeit das Manifest verlangt,
die speziellen Feinde der Demokratie. Wir wiederholen es: Außer den
Polen, den Russen und höchstens den Slaven der Türkei hat kein slavisches

Volk eine Zukunft, aus dem ein-
fachen Grunde, weil allen übrigen
Slaven die ersten historischen, geo-
graphischen, politischen und indu-
striellen Bedingungen der Selb-
ständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen.

Auf die brillanten Ausfüh-
rungen, in denen dieser Standpunkt
näher begründet wird, können wir
leider aus Mangel an Raum nicht
näher eingehen. Die beiden Artikel
schließen dann, wie folgt:

Wir wissen jetzt, wo die Feinde
der Revolution konzentrirt sind: in
Rußland und den österreichischen
Slavenländern; und keine Phrasen,
keine Anweisungen auf eine un-
bestimmte demokratische Zukunft
dieser Länder werden uns abhalten,
unsere Feinde als Feinde zu be-
handeln. Und wenn Bakunin endlich
ausruft: „Wahrlich, nicht ein-
büßen soll der Slave, sondern
gewinnen soll er! Wahrlich, leben
soll er! Und wir werden leben.
So lange uns der kleinste Theil
unserer Rechte bestritten wird, so
lange ein einziges Glied von
unserem gesammtenLeibe ab-
getrennt oder losgerissen ge-
halten wird, so lange werden
wir bis aufs Blut, werden wir
unerbittlich auf Tod und Leben
kämpfen, bis das Slaventhum end-
lich groß und frei und unabhängig
dasteht" — wenn der revolutionäre
Panslavismus diese Stelle ernstlich
meint, und wo es sich um die
phantastisch - slavische Nationalität
handelt, die Revolution ganz aus dem Spiele läßt, dann wissen wir
auch, was wir zu thun haben. Dann Kampf, „unerbittlichen Kampf aus
Leben und Tod" mit dem revolutionsverrätherischen Slaventhum; Ver-
nichtungskampf und rücksichtsloser Terrorismus — nicht im Interesse Deutsch-
lands, sondern im Interesse der Revolution!

Die deutsche Revolution in Wien, die magyarische Revolution in
Budapest — sie waren Kämpfe der Kultur und der Zivilisation gegen
die künstliche Barbarei des habsburgischen Despotismus, gegen die
naturwüchsige Barbarei des Panslavismus. Der russischen Knute erlag
Ungarn, und unter dem Galgen feierte das habsburgische Königthum
seine Wiederherstellung. Kossuth's bleibender Ruhm aber ist, die
Seele der lnagyarischen Revolution gewesen zu sein. An mächtiger
Beredsamkeit nicht nur, sondern auch an gewaltigem Organisations-
talent und namentlich an durchgreifender Kühnheit übertraf er alle
bürgerlichen Freiheitskämpfer der bürgerlichen Revolutionsjahre. Wie
ein vorsintfluthlicher Koloß überragte der Mann, der die habsburgische
Dynastie entsetzte, namentlich die Führer der bürgerlichen Parteien
in Deutschland, denen vor den Thronen und Thrönchen ihres sürsten-
gesegneten Vaterlandes regelmäßig der revolutionäre Athen: ausging.
 
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