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1702

Pfingsten 1S94.

„Es kam öer Tag — die Sage geht —

Da faßt ein Sturmesrasen
Das Haus, wo harrend im Gebet
Des Herren Jünger fasten."

Zu xreö'gerr laut es fort sie reitzt
Und Feuer sind erglommen.

Das Alte sinkt, ein neuer Geist
Ist in die Welt gekommen. —

„Lin neuer Geist! Nicht länger soll
Luch falsch ein Wahn bethören!"

Und rings die Menge wuchs und schwoll,
Das neue Wort zu hören.

„Nicht Herrunö Unecht, nur Bruder noch",
Und ob von hundert Zungen, —

Ls ist in aller Kerzen doch
Das neue Wort gedrungen.

Der Freiheit Wort — es ward gebracht
hinaus nach allen Enden,

Die Welt zu lösen aus der Nacht,

Der Anechtschaft Loos zu wenden.

Und Temxel wuchsen stolz und hoch,
wo man es hingetragen,

Und wie vor tausend Jahren noch
Sie heut' zum Hiinnrel ragen.

Das Heil, das einst des Menschen Sohn
Verhiesten den Bedrückten,

Den Armen, — ward allein zum Lohn
Den Reichen, den Beglückten,

Die ernten, was des Armen Hand
Erschuf in heitzem Ringen,

In Berges Nacht, im Sonnenbrand,
Im weben, Haininerschwingen.

Da neu ein Tag, ein Pfingsten kam
herauf wie Sturmeswetter
Und wo durchs Land den weg es nahm,
Da zittern Stamm und Blätter.

Der Freiheit Hauch geht durch die Welt,
Schon will's im Osten grauen.

Du, Volk der Arbeit, — froh erhellt
wirst bald den Morgen schauen.

Und wieder kehrt es jedes Jahr
Mit wildrein Dräu'n und Sausen.

Das ist dein Pfingsten, Proletar!

Hörst du sein mächtig Brausen?

Drum künöet's laut hinaus und xreist
Die Feuer, neu erglommen.

Das Alte finkt, ein neuer Geist
Ist in die Welt gekommen. n. S.

Berlin, Anfang Mai 1894.

Lieber Jacob!

Wat jiebt et doch für Elend in der Welt!
Jestern Abend jehe ick so'n bisken in'n Thier-
jartcn. Wenn der Flieder blüht un die Nach-
tijall singt un wenn dein: die Schleuse offen
is, denn is et schön in'n Thierjarten. Asiens,
wat een bischen wat war, war denn ooch
draußen, die Equipagen hatten kaum Platz
in die Fahrweje un die armen Fnßjänger
mußten ville Stoob schlucken. Ick suche mir

denn nu eenen Weg aus, wo et stiller is. Da sitzt uss eene Bank een
ecnsamer Mann un liegt mit den Kopp uff die Lehne un stöhnt. Ick bei
ihm ran un frage: Sind Sie krank, Nachbar? Er kiekt in die Höhe un
ick sehe in ccit Jesicht, wat mir bekannt vorkmn. Richtig, dct war der
Putzer Behrendt. Heinrich, frage ick, wat thust Du hier in solche Ver-
hältnisse? Ach, Jotthils, sagt er, mir is et in die letzte Jahre schlecht jejangen.
Un nu erzählt er, bet er so dumm jeivesen wäre un hätte die janze Putz-
arbeit für eenen Neibau in Entreprise jcmacht un hätte seine janzen Er-
sparnisse rinjcstochen. Un als er fertig war, da war sein Bauherr ooch
fertig unb det war een jroßer Schwindler, der Keenen nich bezahlte, ob-
jleich er alle Dage den Jroßkotzijen machte un iinmer Droschke erster
Klasse fahren dhäte. — Konntest Du ihn denn nich verklagen? fragde ick.

Das Märchen vom Ritter Blaubart.

(Ziehe hierzu das Bild auf Leite t?04.)

„Was soll das alte, grelle Rindermärchen
Mit seiner Codtenkammer grans'gem Spuk
Dem Sohn der Gegenwart, der ringenden.

Die nichts von Märchen wissen will?" — Gemach!
wie nun, wennwirdasMärchen, einst das Grau'n
Der Rinderjahre, euch lebendig machten,

Ls umgestaltend zur — Allegorie?
Rapitalismus heißt der Bitter dann.

Dem die Vernunft als Frau man angetraut.
Im Schooß des Beichthums lebt sie, aber streng
Ist ihr verboten, jemals ihren Kuß
In das Gemach zu setzen, das des Gatten
Geheimniß birgt, das seines Aeberfluffes
Gehcimniß furchtbar ihr entschleiern würde.
Sie aber brach das launisch scheinende
Gebot und — Sarg an Sarg hat sie gesunden.
Auf diesen Särgen las sie: „Schwitzsystem" —
„Prostitution" — dann: „Arbeitslosigkeit"

And „Frauenarbeit", „Rinderarbeit" wieder.
And furchtbar tagte cs in ihrer Seele.

Das also war des großen Bäthsels Lösung,
Aach der so lange grübelnd sie gesucht!

Und schaudernd ruft die Menschheit die verstörte
In ihrem Jammer laut um Hilfe an.

Der Bitter aber, der verdacht geschöpft.

Hat keine Wahl — ihr, die zu viel nun weiß.
Muß seinen Dolch im Herzen er begraben.

Sie floh zum Söller, als sie seinen Schritt,
Den klirrenden, den drohenden, vernahm —
Dort läßt sie angstvoll ihren Schleier wehn.
And als den Fuß er auf die Wendeltreppe,

Die zu des Söllers Höhen führt, gesetzt.

Da naht bereits in rasendem Galopp,

Das blanke Schwert in jugendkräft'ger Faust,
Der Bruder der Vernunft, der Sozialismus,
Und auf der Brücke donnern schon die Hufe
Des ungestümen Benners, der ihn trägt.

Daß er, zur rechten Stunde kommend, siegreich
Den Bitter überwindet und die Rlinge

Ins schwarze Herz ihm stößt, die Frevel sühnt
And seine Schwester aus der Aoth befreit. —
Das Alles fügt sich in des Märchens Bahmen,
And wenn wir so es deuten und verstehn.

So ist das Märchen uns kein Märchen mehr
And wird uns ungewollt zur Prophezeiung,
Die tiefen Sinnes voll und in den Falten
Des dunklen Mantels die Verheißung trägt.
--

Die gestörte Sitzung.

Heiß, stickig, schwül die Luft im Sitzungssaale,
den die bläulichen Flammen der elektrischen Glas-
kugeln mühsam erhellten. Die Bänke waren
schwach besetzt; je weiter nach rechts sich die Sitze
vorschoben, um so öder wurde es. Auf der Rechten
und in der Mitte ein paar Dutzend fleißiger Reichs-
boten; die Linke war besser besetzt, denn bei ihr
war die Kampflust lebendiger noch und die
Freude am Reden. Am großen Bundesrathstisch
saß irgend ein Staatssekretär, umgeben von Vor-
tragenden Rüthen, in sein Schicksal ergeben, schläfrig
in einem Aktenbündel blätternd, das er der großen
schwarzen Mappe, die hinter ihin stand, entnommen
hatte. Der Präsident saß geduldig wie ein altchrist-
licher Büßer auf seinem Lehnsessel, rechts und links
neben sich die Schriftführer, die gemächlich duselten.

Auf der Journalistentribüne hockten die zun:
Bleiben Berurtheilten, kritzelten flink das Nöthigste
und stierten stumpf auf die kahlen Flächen der
weißlich schimmernden Glatzen unten im Plenum.
Die Galerien, wohin das souveräne Volk kommt,
seine Vertreter bei der Arbeit zu sehen, waren
heute wenig besucht. Nur die Stammgäste, die
Tag für Tag ins Parlament gehen, mag auf der
Tagesordnung stehen was da wolle, mag es
schneien oder regnen, mag die Sonne scheinen
oder rnag es gewittern, hielten heute aus; blos
einige Neugierige mußten ihre Voreiligkeit büßen.

! Warunr hatten sie ihr tadelloses Geurüth auch
i nicht ernstlicher bezähmt?

Herr von Kardorff sprach, der Sancho Pansa
der Reaktion, der Pickelhäring des hohen Hauses.
Und wieder ampelte und strampelte er mit Händen
und Füßen, wieder focht er mit den Armen durch
die Luft, stieß sie in die Höhe, wie wenn er einen
Sperling im Fluge haschen wollte, und riß sie
zurück, wie von einer unsichtbaren Gemalt gepackt,
gleich dem Figürchen im Kasperltheater, das der
Mann hinter der Bühne an hänfenem Faden
lenkt und wendet.

„Nieine Herren", krähte und schnarrte der
schlesische Junker und Gründer, „die Nothlage
der Landwirthschaft ist ....."

Da rief eine kräftige tiefe Stiinme: „Humbug!"
Der Präsident stand auf, griff zur Glocke und
rief: „Ich verbitte mir die Zwischenrufe." Und ver-
geblich sucht er den kecken Zwischenrufer festzu-
stellen, um einen hochnothpeinlichen Ordnungsruf
auf das Haupt des Sünders abzuladen.

Da ertönt's vom kleinen Bundesrath, wo ver-
stohlen ein Kleinstaatsvertreter Siesta hält: „Wozu
der Lärm, Herr Präsident? Fragen Sie doch
Herrn von Kardorff, wie viel er bei der Grün-
dung der Laurahütte verdient hat. Das arbeitende
Volk leidet Noth, hoch die Sozialdemokratie!"
Das Haus geräth in Aufregung, die Schläfer
fahren auf, Kardorff zappelt auf seinem Platze
wie von der Tarantel gestochen, die Diener eilen
hin und her, der Brave vom kleinen Bundesrath
sucht unter Tisch und Stühlen nach dem Atten-
täter und betheuert seine Unschuld. Auf Pen
Tribünen wird cs lebendig, die Zeitungsschreiber
grinsen vor Bosheit und Vergnügen, die Zuhörer
recken die Hälse, um besser zu hören und zu sehen,
nur ein junger, stattlicher Mann bleibt ruhig
sitzen, die Arme bequem auf die Brüstung gelegt,
behaglich lächelnd, ruhig und unbeweglich.

Aufspringt Herr von Stumm, der König von
Neunkirchen, und bittet ums Wort zur Geschäfts-
ordnung. Am Prüsidententisch wird geklingelt
und durch den Saal gellt es: „Ratzenhannes,
Ratzenhanncs!" Wuthschnaubend, mit zornrothem
 
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