Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
„Aber da kam uns der Eifer unseres klerikalen Arbeitgebers zu
Hilfe. Er gab uns ein Versammlungslokal, in welchem wir uns ver-
einigen konnten, imb endlich, als der gute Dekan seiner Sonntagsarbeit
müde wurde, gab man unS sogar das freie Wort.

„Am Anfang war das Wort", sagt der Evangelist Johannes,
und so ist noch heute daS Wort der Anfang jeder geistigen Bewegung.
Ich ergriff es und ich war kein Prediger in der Wüste.

„Wir behandelten zunächst das Thema „Liebet Ench unter-
einander", wobei wir die Rothwendigkeit des Solidaritätsgefühls und
der Einigkeit unter den Arbeitern erörtern konnten.

„Es folgte 1. Moses 1—3: „Es werde Licht", welches von
der Aufklärung über die wirthschaftlichen Interessen des Proletariats
handelte. Dann folgte als Thema das Buch Hiob, wobei die Armuth
in ihren Schrecken enthüllt wurde, und als Ergänzung zeigte die Legende
vom „Reichen Mann und dem armen Lazarus" den Unterschied
zwischen Arm und Reich.

„Darauf gingen wir mit dem biblischen Thema: „Was werden
wir essen, womit werden wir uns kleiden" zur Besprechung der
Lage der hiesigen Arbeiter über und kamen zu dem Resultat, in nächster
Zeit mit der Forderung einer fünf-
zehnprozentigen Lohnerhöhung her-
vorzutreten. Die weiteren Verhand-
lungen haben zu dem Uebercinkom-
men geführt, daß im Falle der Vcr-
weigernng dieser berechtigten Forde-
rung die Arbeit nicdergelegt wird,
auf Grund des schönen Bibelwortes
Matthäus 7, 9, welches verlangt:

„Wer umBrotbittet, dein darf
man nicht Steine bieten."

Die Andacht tvurde beschlossen
init der Verlesung einiger Stellen
aus Sirach Kap. 13: „Der Reiche
thut Unrecht und trotzt noch dazu;
aber der Arnie muß leiden und
dazu danken! — So lange du dem
Reichen nütze bist, braucht er deiner; ■
aber wenn du nicht mehr kannst,
so läßt er dich fahren. — Wenn er
deiner bedarf, kann er dich fein
äffen, lind lächelt dich an und ver-
heißet dir viel; und giebt dir die
besten Worte und spricht: Bedarfst du etwas? — Und wenn er gleich
deine Roth sieht, so läßt er dich doch fahren und schüttelt den Kopf
über dich. — Darum siehe zu, daß dich deine Einfalt nicht betrüge. —
Und in Unglück bringe. — Du lebst in großer Gefahr. — Ein jegliches
Thier hält sich zu seines Gleichen. — So soll ein jeglicher Mensch sich
gesellen zu seines Gleichen, — beim — wie der Löwe das Wild frißt
in der Heide, so fressen die Reichen die Armen."

Hierauf forderte Matthias Luchs zu festem Ausharren auf und
schloß mit den Worten des Psalmö 94, 15: „Recht muß doch Recht
bleiben."

Diese Predigt Ivurde mit großem Beifall ausgenommen und es
wurde beschlossen, an Herrn Fürchtegott Rosenkranz eine Arbeiter-Depu-
tation abzuordnen, tvclche ihm sofort nach seiner Rückkehr die Lohn-
forderung der Arbeiter darlegen und begründen sollte. Als Sprecher der
Deputation tvurde einstimmig Matthias Luchs ernannt.

Als Herr Fürchtegott Rosenkranz and der Residenz zurückgekehrt
war, hatte er einen getvaltigcn Katzenjammer, denn er war die schwere»
Weine nicht gewöhnt, bei tvelchcn der Klerus über die Genußsucht der
Menschen zu jammern pflegt.

Die Meldung, daß eine Abordnung seiner Arbeiter ihn zu sprechen
wünsche, setzte ihn aber so in Erstaunen, daß er die Kopfschmerzen
darüber vergaß. Waö konnten sie wollen, diese ewig zufriedenen, be-
scheidenen Arbeiter?

Er ließ sie eintretcn, und als er den Matthias Luchs erblickte,
hellte sich sein Antlitz auf - es betraf jedenfalls nur ein Anliegen zu
Gunsten der Betstunde.

Der Sprecher der Arbeiter setzte nun klar und gründlich aus-
einander, tvas die Arbeiter zu verlangen hätten und ans ivelchen Grün-
den sie darauf bestehen müßten.

Herr Rosenkranz siel aus den Wolken! „Heiliger Joseph! In
meinem Hause eine Meuterei unter den Arbeitern! Ist das möglich? Wer
hat Euch verführt? Wo haben sich Agitatoren eingeschlichen? Wo habt Ihr
Eure einfältigen Herzen solchen umstürzlerischen Bestrebungen geöffnet?"

„In der Betstunde!" antwortete einer der Arbeiter auf diese
heftig hervorgcstoßenen Fragen.

Der Chef war sprachlos. „In — der — Betstunde?" stöhnte er
endlich. „Die ich eingerichtet habe, um Begehrlichkeit und Verführung
von Ench fernznhalten? Damit wäre so himmelschreiender Mißbrauch
getrieben worden?"

Nun ergriff aber Luchs tvieder das Wort und bewies dem frommen
Strnmpffabrikanten, daß er durchaus keinen Mißbrauch mit der Bet-
stunde getrieben, sondern dort ganz im Geiste des Christenthums gewirkt

habe, welches sich der Mühseligen
und Beladenen annimmt und welches
ansbentenden und dabei doch fröm-
melnden Unternehmern in Matthäus
6,24 zuruft: „Ihr könnet nicht
Gott dienen und dem Mam-
mon." Endlich betonte der Sprecher,
daß in Lukas 10, 7 und in Thiino-
theus 5, 18 der heiligen Schrift
konstatirt werde: „Ein Arbeiter
ist seines Lohnes Iverth", und
daß man sich daher zum Streik
entschlossen habe, wenn die sündige
MammonSgier des Unternehmer-
thums so weit gehe, diese nothwendige
Lohnerhöhung hartherzig zu ver-
weigern.

Herr Fürchtegott Rosenkranz
war niedergeschmettert. „Auf solche
Dinge kommen die Leute in der Bet-
stunde, und da heißt es noch, das
Christenthuin sei eine Waffe gegen
die Sozialdemokratie! Umgekehrt ist
das Nichtige!" Und so drängte sich dein bisher so zuversichtlichen Ultra-
montanen die Erkenntniß auf von der Ohnmacht seiner Partei und der
herrschenden Klassen überhaupt gegenüber der sozialen Frage.

Und ein Streik in seiner Fabrik, die er noch gestern seinen auswär-
tigen Parteigenossen als Paradies der Arbeiter angepriesen hatte! Er
stände als Lügner und Aufschneider da, oder mindestens als ein Mensch,
der seine eigene Umgebung nicht zu beurthcilen versteht.

Solche Gedanken bestimmten Herrn Rosenkranz, der Arbeiter-
Deputation keinen direkt ablehnenden Bescheid zu geben, sondern nur zu
sagen, er werde sich die Sache überlegen.

Er überlegte, das heißt er rechnete, und er fand den Gewinn,
den er aus der Arbeit seines Fabrikpersonals zog, so reichlich, daß die
geforderte Mehr-Ausgabe für Lohn dagegen nicht empfindlich ins Gewicht
fiel. Er entschloß sich daher, lieber diese Mehr-Ausgabe zu verschmerzen,
anstatt die Blamage heraufzubeschwörcn, die ihm ein Streik znfügen
mußte, nachdem er sein industrielles Unternehmen als eine Musterfabrik
geschildert hatte, deren Arbeiter sich nach der Betstunde drängen.

Es wurde dem Personal der Rosenkranz'schen Fabrik alsbald ver-
kündigt, daß der Chef, „gütig wie immer", die gesammte Lohnforderung
bewilligt habe.

Der Bctsaal wurde jedoch um dieselbe Zeit gesperrt, „denn", sagte
der Fabrikherr, „wenn Ihr sozialdemokratische Versammlungen haltet,
so will ich wenigstens nicht mehr das Lokal dazu hergeben." W

Verantwortlich für die Redaktion Georg Baßler in Stuttgart. — Druck und Verlag von I. H. W. Dietz in Stuttgart.
 
Annotationen