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1943

Besitzenden gestellt, daß es wegen Aufreizung konfiszirt worden war.
Ungeachtet der Konfiskation hatte man es aber an einem Sonntage
weiter verbreitet, und der wachsamen Polizei war es trotz umfassender
Maßnahmen nur gelungen, einen einzigen der Verbreiter, nämlich den
gegenwärtig Angeklagten, abzufassen. Derselbe sei für seine Person
geständig, leugne aber hartnäckig, Mitschuldige zu haben und nehme
sogar in höchst unglaubwürdiger Weise die Verfasserschaft des Inhalts
in Anspruch.

Hierauf brachte der Gerichtsschreiber im Aufträge des Präsidenten
das Flugblatt zur Verlesung.

Rudi hörte aufmerksam zu und wurde förmlich elektrisirt von den
Schilderungen des Nothstandes und der Dickfelligkeit der herrschenden
Klassen, die nichts thun wollten, um den Armen zu helfen.

„Haben Sie denn den Inhalt des Flugblattes nicht gekannt?" fragte
der Präsident.

„Nein — bis heute nicht!" bekannte Rudi.

„Dann wollen Sie wohl auch nicht gewußt haben, daß es wegen
der darin enthaltenen Auf-
reizungen konfiszirt war?"

„Keine Idee!"

„Aber Sie haben doch
gesagt. Sie hatten es selbst
geschrieben?"

„Ja, du lieber Gott,
da habe ich mich eben geirrt;
ich hatte damals so viel zu
schreiben, Inserate, Offerten
u. s. w."

Der Präsident wurde
ärgerlich. „Sie wollen
Wohl auch noch leugnen,
daß Sie überhaupt Sozial-
demokrat sind, — wie?"

„Ja, meine hohen
Herren", sagte Rudi, „da
müssen Sie schon gütigst
entschuldigen: in meiner
Heimath, in einem kleinen
ostpreußischen Landstädtchen,
habe ich leider wenig oder
gar nichts von Sozialdemo-
kraten gehört und gesehen;
hier aber habe ich die meiste
Zeit mit Arbeitsuchen ver-
geudet und dann bin ich
eingesperrt worden; erst aus der Schrift, die der gute Herr vorhin
verlas, habe ich einen richtigen Begriff von der Sozialdemokratie bekommen
und werde von nun an zu ihnen halten."

Der Präsident schüttelte den Kopf.

„Ihre Verstellung nützt Ihnen nichts, denn das eine, wobei Sie
in ÜLAranti ertappt Ivorden sind, können Sie wenigstens nicht leugnen:
Sie haben sozialdemokratische Flugblätter verbreitet. Ja oder nein?"

„Nein, Herr Präsident", sagte Rudi treuherzig.

Der Staatsanwalt warf ihin einen wüthenden Blick zu. Der
Präsident fragte sarkastisch:

„Wie erklären Sie dann die Situation, in der Sie vom Gendarmen
betroffen wurden?"

„Ganz einfach, Herr Präsident: ich versuchte, ein Blatt in eine
Thürspalte zu stecken, aber es gelang mir nicht, weil ich dabei gestört
wurde."

„Und vorher hatten Sie keine Blätter verbreitet?"

„Nicht ein einziges."

„Das sollen wir glauben?"

„Es ist die reine Wahrheit", betheuerte Rudi.

„Gut", sagte der Präsident, „woher hatten Sie die Blätter?"

„Ein Mann hat sie mir gegeben."

„Wer war der Mann? wie heißt er? wo wohnt er?"

„Weiß ich nicht; habe keine Ahnung", war die Antwort.

„Ich verstehe", sagte der Präsident, „Sie wollen sich auf den
„großen Unbekannten" hinausreden. Das kennen wir. Wie sah der
Mann aus?"

Jetzt stockte Rudi einen Moment und sah sich um. Rudi's Auge
blieb auf dem Staatsanwalt haften.

„Der Mann", begann er langsam und gewichtig, „war ein großer
dicker Herr mit einer goldenen Brille; er hatte schwarzes Haar, etwas
in die Stirn hineinhängend, schwarzen dünnen Vollbart . . . ."

„Jetzt ist es genug; schweigen Sie!" befahl der Präsident barsch.
Er hatte bemerkt, daß Rudi einfach eine Beschreibung des Staatsanwalts
gab; im Zuschauerraum herrschte Heiterkeit.

Dein Angeklagten wurden nun verschiedene Vorhalte gemacht über
den Widerspruch seiner jetzigen und früheren Aeußerungen; unter Anderein
bemerkte der Präsident:

„Sie haben angegeben, ein Bruder von Ihnen sei Vortragender Rath
iiii ungarischen Ministerium. Es wurden hierüber durch Verinittlimg

unserer Gesandtschaft Re-
cherchen gepflogen, welche
die totale Unwahrheit Ihrer
Aussage ergaben."

„Aber mein Bruder ist
wirklich in Ungarn", sagte
Rudi.

„Als Vortragender Mi-
nisteralrath?"

„Das nun gerade nicht;
er ist Spenglcrgeselle, ich
hatte es nur verwechselt,
weil er doch auch Blech
verarbeitet —"

Dem Angeklagten wurde
das Wort entzogen. Der
Staatsanwalt hielt seine
Rede und beantragte ein
halbes Jahr Gefängniß.
Der Vertheidiger betonte die
Glaubwürdigkeit des Ange-
klagten, seine völlige Un-
kenntniß politischer Verhält-
nisse, und führte aus, daß
er freizusprechen sei, da man
ihm nichts Strafbares Nach-
weisen könne.

Die Richter waren ehr-
liche Leute. Sie betrachteten es als unerwiesen, daß der Angeklagte von der
Konfiskation des Flugblattes Kenntniß gehabt habe. Immerhin sahen sie
aber in seinem Versuch, ein Exemplar durch eine Thürspalte zu stecken,
die vollendete Verbreitung und verurtheilten ihn zu vierzehn Tagen Ge-
fängniß, die aber durch die Untersuchungshaft als verbüßt gelten sollten.

Eine Viertelstunde später verließ Rudi als freier Mann das Ge-
richtsgebäude und wurde zu seinem Erstaunen von zahlreichen Leuten
ertvartet und lebhaft begrüßt. Es waren Sozialdemokraten und unter
ihnen befand sich auch der Mann, dem Rudi seiner Zeit im rechten
Augenblicke die Flugblätter abgenommen hatte. Sie geleiteten ihn nach
ihrem Verkehrslokale, wo beim schäumenden Glase Bier die ganze Ge-
schichte nochmals durchgesprochen wurde. Rudi's Verhalten erregte Be-
wunderung und seine trockenen Bemerkungen entfesselten des Oefteren
unbändige Heiterkeit.

Es braucht wohl nicht hinzugefügt zu werden, daß auch für Rudi's
Unterkommen gesorgt worden ist. Bald wurde dieser in der großen
Stadt heimisch, er lernte die Parteiverhältnisse kennen und jetzt wirkt
er kräftig mit in der öffentlichen Agitation. Wenn er demnächst wieder
eine Volksversammlung abhalten wird, so werden wir es den freund-
lichen Lesern mittheilen, — sie können sicher sein, an einem solchen
Abend viel lachen zu müssen, — der Humor ist und bleibt die beste
Waffe Rudi's und das Publikum hat er jedesmal auf seiner Seite.

. . . Rudi wurde. . . von zahlreichen Leuten erwartet und begrüßt."
 
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