1984
Ein Jahr vorher, im Juli 1830, hatten Bourgeois und Prole-
tarier von Paris brüderlich vereint das Junker- und Pfaffenregime der
Bourbonen weggcfegt und die neuere revolutionäre Barrikadentaktik
inaugurirt. Es war den Proletariern dabei nicht eingefallen, eigene
Forderungen zu stellen: Sie glaubten für sich zu kämpfen, wenn sie für
die Bourgeoisie känipften.
1831 standen französische Proletarier in blutigem Kampf gegen
die kapitalistische Ausbeutung, aber unter Bedingungen, ivelche die
Unreife des Proletariats verriethen. Den Schauplatz des Kampfes
bildete diesmal nicht das
revolutionäre Paris, sondern
Lyon, das stets zur Re-
aktion neigte. Lyon war
eine der wenigen Städte,
in denen damals die kapita-
listische Industrie ausschließ-
lich herrschte. Aber diese
war dort eine Lnxusindu-
strie, ein Kind der feudalen
Ausbeutung, der feudalen
Verschwendung: die Seiden -
industrie. Die große fran-
zösische Revolution, die der
feudalen Ausbeutung ein
Ende machte, erschütterte auch
die Lyoner Seideirindustrie
aufs Tiefste. Kein Wrmder,
daß Lyon sich in entschieden-
ster Weise der Gegenrevo-
lution anschloß und das
furchtbarste Rachegericht der
Pariser Terroristen über sich
heraufbeschwor. Auch später
ertvies sich Lyon noch öfter
als eine Hochburg des Ultra-
montanismus.
Die Lyoner Seiden-
industrie war 1831 noch
völlig Hausindustrie. 8000
bis 10000 Meister, die zu-
sammen 30—40000 Ge-
sellen beschäftigten, arbeiteten
für ettva 800 sogenannte
Fabrikanten, die ihrerseits
wieder ökonomisch abhängig
waren von den Großhänd-
lern, den Kommissionären.
Auf den Gesellen lastete also
nicht weniger als dreifache
Ausbeutung. Und deren
Druck wurde immer ärger.
Kanin hatte die Lyoner In-
dustrie begonnen, sich von
den Schlägen der großen
Revolution zu erholen, da
erstanden ihr auch schon ge-
fährliche Konkurrenten im
Ausland, namentlich in Eng-
land, wo die Maschine die Seidenindustrie wie die anderen Textil-
industrien revolutionirte.
Natürlich zogen es die Fabrikanten und Großhändler vor, den
Konkurrenzkampf nicht durch Einführung besserer Produktionsweisen,
sondern durch ärgere Schindring der Arbeiter zrr führen; das ist überall
der Fall, wo die Kapitalisteir nrit eirrer widerstandslosen Arbeiterklasse
zu thun haben. Rasch sanken die Löhne von 6 und 4 Frcs. auf
2, auf 1 Frcs., und im Herbst 1831 war der Tagesverdienst bei
der Verarbeituirg einfacher Stoffe bei 48stündiger Arbeitszeit arif
80 Centimes gefallen. Gesellen wie Meister geriethen in eine unerträg-
liche Lage, und das Schlimmste war zrr befürchten, wenn nicht eine
Hebung der Löhne eintrat.
Der Präfekt, Bouvier-Drunolard, suchte zu vermitteln. Auf seine
Anregung traten beit 25. Oktober 22 Delegirte der Arbeiter und eben-
soviele Vertreter der Fabrikanten zusammen, um einen Lohntarif fest-
znsetzen, der weitere Lohndrückereien unmöglich machen sollte. Man
einigte sich über einen solchen, und er wurde von beiden Seiten unter-
zeichnet. So geringe Konzessionen er enthielt, die Arbeiter waren damit
zufrieden. Die Fabrikanten aber wurden durch ihn in Wuth versetzt.
Sie erklärten, er sei ihren Delegirten erpreßt worden, diese selbst habe
man in einer schwach besuchten Versammlung gewählt — kurz, sie
protestirten gegen den Tarif.
Darauf gaben die Arbeiter
die einzig mögliche Antwort,
sie stellten die Arbeit ein.
Den Fabrikanten kam
das sehr gelegen. Sie lechz-
ten nach einem Blutbad, das
die störrischen Arbeiter wieder
zur „Vernunft" bringen
sollte, und ein Streik gab
die beste Gelegenheit dazu.
Sie bauten nicht blos auf
das Militär, sondern auch
auf die Nationalgarde, die
sich nur aus den besitzenden
Klassen rekrutirte.
Die Gelegenheit zu einem
Zusanimenstoß fand sich bald
— man befolgte dieselbe
Taktik, die ein ebenso ge-
wissenloses wie habsüchtiges
Ausbeuterthum seitdem un-
zähligemale wiederholt hat.
Montags, den 21. November,
zogen Schaaren von Seiden-
arbeitern durch die Straßen,
um zu sehen, wo gearbeitet
werde, aber ohne die ge-
ringste Gewaltthätigkeit zu
begehen. Ohne jede Veran-
lassung stellten sich diesen
friedlich cnSchaaren National-
garden entgegen und griffen
sie thcils mit dem Bajonett
an, theils feuerten sie in
die Massen. Wild stoben
diese auseinander, aber nur,
um bald wicdcrzukehren mit
Stöcken, mit Schaufeln, mit
was immer bewaffnet. Barri-
kaden wuchsen aus dem
Boden. Die ganze Bevölke-
rung der Vorstädte erhob
sich und folgte der schwar-
zen Fahne der Insurgenten,
welche dieJnschrift trug.-Vivre
sn travaillant cm raourir en
eombattant, „arbeitend leben
oder kämpfend sterben".
Der blutige Kanipf, nach dem die Fabrikanten verlangt, war da.
Aber er ging anders ans, als sie erwartet hatten. Das Militär,
3000 Mann stark, focht nicht mit allzugroßem Eifer. ES erinnerte
sich noch des Juli vom vorigen Jahre, wo diejenigen Regimenter den
größten Ruhm geerntet, die sich getveigert hatten, auf das Volk zu
schießen.
Aber auch die 15000 Mann Nationalgarde erfüllten nicht die
Erwartungen der Fabrikanten. Viele der Gardisten waren Leute, die
von der Kundschaft der Arbeiter abhingen, und für die eine Lohn-
erhöhung von Vortheil war. Sie hatten nicht das mindeste Bedürfniß,
ihr Leben für die Fabrikanten in die Schanze zu schlagen.' Sie ver-
hielten sich lau und muthlos, ließen sich oft ohne Widerstand von den
Die große Barrikade am Pantheon. (\848.)
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Ein Jahr vorher, im Juli 1830, hatten Bourgeois und Prole-
tarier von Paris brüderlich vereint das Junker- und Pfaffenregime der
Bourbonen weggcfegt und die neuere revolutionäre Barrikadentaktik
inaugurirt. Es war den Proletariern dabei nicht eingefallen, eigene
Forderungen zu stellen: Sie glaubten für sich zu kämpfen, wenn sie für
die Bourgeoisie känipften.
1831 standen französische Proletarier in blutigem Kampf gegen
die kapitalistische Ausbeutung, aber unter Bedingungen, ivelche die
Unreife des Proletariats verriethen. Den Schauplatz des Kampfes
bildete diesmal nicht das
revolutionäre Paris, sondern
Lyon, das stets zur Re-
aktion neigte. Lyon war
eine der wenigen Städte,
in denen damals die kapita-
listische Industrie ausschließ-
lich herrschte. Aber diese
war dort eine Lnxusindu-
strie, ein Kind der feudalen
Ausbeutung, der feudalen
Verschwendung: die Seiden -
industrie. Die große fran-
zösische Revolution, die der
feudalen Ausbeutung ein
Ende machte, erschütterte auch
die Lyoner Seideirindustrie
aufs Tiefste. Kein Wrmder,
daß Lyon sich in entschieden-
ster Weise der Gegenrevo-
lution anschloß und das
furchtbarste Rachegericht der
Pariser Terroristen über sich
heraufbeschwor. Auch später
ertvies sich Lyon noch öfter
als eine Hochburg des Ultra-
montanismus.
Die Lyoner Seiden-
industrie war 1831 noch
völlig Hausindustrie. 8000
bis 10000 Meister, die zu-
sammen 30—40000 Ge-
sellen beschäftigten, arbeiteten
für ettva 800 sogenannte
Fabrikanten, die ihrerseits
wieder ökonomisch abhängig
waren von den Großhänd-
lern, den Kommissionären.
Auf den Gesellen lastete also
nicht weniger als dreifache
Ausbeutung. Und deren
Druck wurde immer ärger.
Kanin hatte die Lyoner In-
dustrie begonnen, sich von
den Schlägen der großen
Revolution zu erholen, da
erstanden ihr auch schon ge-
fährliche Konkurrenten im
Ausland, namentlich in Eng-
land, wo die Maschine die Seidenindustrie wie die anderen Textil-
industrien revolutionirte.
Natürlich zogen es die Fabrikanten und Großhändler vor, den
Konkurrenzkampf nicht durch Einführung besserer Produktionsweisen,
sondern durch ärgere Schindring der Arbeiter zrr führen; das ist überall
der Fall, wo die Kapitalisteir nrit eirrer widerstandslosen Arbeiterklasse
zu thun haben. Rasch sanken die Löhne von 6 und 4 Frcs. auf
2, auf 1 Frcs., und im Herbst 1831 war der Tagesverdienst bei
der Verarbeituirg einfacher Stoffe bei 48stündiger Arbeitszeit arif
80 Centimes gefallen. Gesellen wie Meister geriethen in eine unerträg-
liche Lage, und das Schlimmste war zrr befürchten, wenn nicht eine
Hebung der Löhne eintrat.
Der Präfekt, Bouvier-Drunolard, suchte zu vermitteln. Auf seine
Anregung traten beit 25. Oktober 22 Delegirte der Arbeiter und eben-
soviele Vertreter der Fabrikanten zusammen, um einen Lohntarif fest-
znsetzen, der weitere Lohndrückereien unmöglich machen sollte. Man
einigte sich über einen solchen, und er wurde von beiden Seiten unter-
zeichnet. So geringe Konzessionen er enthielt, die Arbeiter waren damit
zufrieden. Die Fabrikanten aber wurden durch ihn in Wuth versetzt.
Sie erklärten, er sei ihren Delegirten erpreßt worden, diese selbst habe
man in einer schwach besuchten Versammlung gewählt — kurz, sie
protestirten gegen den Tarif.
Darauf gaben die Arbeiter
die einzig mögliche Antwort,
sie stellten die Arbeit ein.
Den Fabrikanten kam
das sehr gelegen. Sie lechz-
ten nach einem Blutbad, das
die störrischen Arbeiter wieder
zur „Vernunft" bringen
sollte, und ein Streik gab
die beste Gelegenheit dazu.
Sie bauten nicht blos auf
das Militär, sondern auch
auf die Nationalgarde, die
sich nur aus den besitzenden
Klassen rekrutirte.
Die Gelegenheit zu einem
Zusanimenstoß fand sich bald
— man befolgte dieselbe
Taktik, die ein ebenso ge-
wissenloses wie habsüchtiges
Ausbeuterthum seitdem un-
zähligemale wiederholt hat.
Montags, den 21. November,
zogen Schaaren von Seiden-
arbeitern durch die Straßen,
um zu sehen, wo gearbeitet
werde, aber ohne die ge-
ringste Gewaltthätigkeit zu
begehen. Ohne jede Veran-
lassung stellten sich diesen
friedlich cnSchaaren National-
garden entgegen und griffen
sie thcils mit dem Bajonett
an, theils feuerten sie in
die Massen. Wild stoben
diese auseinander, aber nur,
um bald wicdcrzukehren mit
Stöcken, mit Schaufeln, mit
was immer bewaffnet. Barri-
kaden wuchsen aus dem
Boden. Die ganze Bevölke-
rung der Vorstädte erhob
sich und folgte der schwar-
zen Fahne der Insurgenten,
welche dieJnschrift trug.-Vivre
sn travaillant cm raourir en
eombattant, „arbeitend leben
oder kämpfend sterben".
Der blutige Kanipf, nach dem die Fabrikanten verlangt, war da.
Aber er ging anders ans, als sie erwartet hatten. Das Militär,
3000 Mann stark, focht nicht mit allzugroßem Eifer. ES erinnerte
sich noch des Juli vom vorigen Jahre, wo diejenigen Regimenter den
größten Ruhm geerntet, die sich getveigert hatten, auf das Volk zu
schießen.
Aber auch die 15000 Mann Nationalgarde erfüllten nicht die
Erwartungen der Fabrikanten. Viele der Gardisten waren Leute, die
von der Kundschaft der Arbeiter abhingen, und für die eine Lohn-
erhöhung von Vortheil war. Sie hatten nicht das mindeste Bedürfniß,
ihr Leben für die Fabrikanten in die Schanze zu schlagen.' Sie ver-
hielten sich lau und muthlos, ließen sich oft ohne Widerstand von den
Die große Barrikade am Pantheon. (\848.)
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