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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

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https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0185
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2527

Bir Arbeiterbewegung in Belgien.
Seil Ende des Jahres 1895.
Von vo. Emil Vinrk.
Vor anderthalb Jahren beglückwünschte ich
in einem Artikel der „Neuen Zeit" die bel-
gische Arbeiterpartei zu ihrer Thätigkeit auf
allen Gebieten des menschlichen Lebens und
bezeichnete diese umfassende Thätigkeit als die
erste Bürgschaft zukünftiger Erfolge. Ich habe
mich nicht getäuscht; und meine Zuversicht
wird noch durch die andere bedeutendere That-
sache gestärkt, daß sich unsere Partei niemals
in ihrer Gesammtheit auf die Eroberung
einiger vereinzelter Reformen beschränkt, wie
ein Heer, das bei der Besetzung eines Landes
sich ganz um einen bestimmten Punkt konzen-
trirt und dabei vergißt, die Truppen des
Gegners in den anderen Teilen des Landes
festzuhalten. Gegen alle Punkte richtet sich
gleichzeitig ihr Angriff und das Schmarotzer-
thum sieht sich in allen seinen Stellungen
bedroht.
Diese vielfache Thätigkeit der Partei führt
zu einer gegenseitigen Durchdringung der ver-
schiedenen Organisationen; so nehmen z. B.
die Organisationen, welche sich mit ökono-
mischen Verbesserungen beschäftigen, zugleich
an den Bestrebungen der politischen Organi-
sationen, der Erziehungsgruppen theil und
umgekehrt.
Ein anderes glückliches Zeichen ist es, daß
die Bewegung in allen ihren Handlungen eine
revolutionäre Haltung bewahrt, d. h. daß sie
nie vergißt, wie die auf dem Boden der heu-
tigen Gesellschaft errungenen Verbesserungen
doch nur vorübergehende Maßregeln sein
können. In dem Maße, wie diese Verbesse-
rungen errungen werden, müssen wir die
revolutionäre Seite unserer Lehren hervor-
heben, um nicht in einem engen und egoistischen
Opportunismus unterzugehen.
Lassen wir jetzt die mannigfache Thätigkeit
unserer Partei an unseren Blicken vorüber-
ziehen.
I. Die politische THLtiAlirik.
Der Juli 1896 brachte uns neue Wahlen
zum Parlament. Der Wahlkampf war heftiger
als je; aber wir waren durch unsere früheren
Erfolge ein wenig berauscht und viele von
uns hofften auf eine Verstärkung der sozia-
listischen Minorität im Parlament. Jndeß
brauchen wir uns nicht über die Resultate
zu beklagen. Der einzige sozialistische Abge-
ordnete, der sich einer Wiederwahl zu unter-
ziehen hatte, erhöhte seine Stimmenzähl um
1400 Stimmen; die anderen Hoffnungen blie-
ben ohne Erfüllung. Ucberall haben wir aber
große Fortschritte gemacht:

Außer dem direkten Resultat einer großen
Verstärkung unserer Kräfte sahen wir das

Im Wahlkreise
sielen auf sozialistische Kandidaten
Stimmen:
1894
1896
Brüssel....
40 218
71 017»
Nivelles . . .
6 536
19 879
Anvers....
4 870
9 000
Bruges . . .
521
8 087
Courtrai . . .
3 674
11800
Louvain . . .
5 080
18 000
Ostende . . .
kein Wahlkampf
1935
Apres ....
3 300
Philippeville. .
6 717
Roulers . . .
3 326
Dinant....
/,
14 900»

* In Verbindung mit den Radikalen.

Ereigniß endlich eintreten, das wir längst
vorausgesehen hatten: die kapitalistische Kon-
zentration der Liberalen und Katholiken. Wir
tonnen uns nichts Besseres wünschen: einmal,
weil es stets angenehmer ist, sich nur einem
Feinde gegenüber zu sehen, besonders aber
weil durch die Vereinigung die beiden Parteien
sich schwächen und vor Allem die katholische
Partei, die unser gefährlichster Feind ist, dabei
fast gänzlich ihren philosophischen und reli-
giösen Charakter verliert und zur einfachen
Klassenpartei wird, gegen die sich leichter
kämpfen läßt. Außerdem erzeugt diese Umge-
staltung im Schoße der katholischen Partei
selbst ein Vorherrschen des Klassenkampfes
und dadurch Spaltungen, die sich nicht auf-
heben lassen, sondern von Tag zu Tag ver-
schärfen. Der Kampf der Klassen zeichnet sich
also bei uns mit größerer Reinlichkeit ab und
erleichtert das Vordringen unserer Thätigkeit
bedeutend. Dies Verschwinden vermittelnder
Parteien isolirt in vortrefflicher Weise die
Arbeiterpartei und die Richtung ihres Vor-
gehens; die Scheidung ist reinlich, so daß
auf dem praktischen Gebiet der Wahlkämpfe
Bündnisse mit solchen Parteien, deren Pro-
gramm dein unserigen nicht direkt entgegen-
gesetzt ist, weniger gefährlich werden.
Alle belgischen Sozialisten sind übrigens
nicht dieser Ansicht; viele sähen es am liebsten,
wenn die Arbeiterpartei auf alle Bündnisse
verzichtete. Auf dem letzten jährlichen Kongreß
(am 18. und 19. April 1897) stand die Frage
auf der Tagesordnung. Die Antragsteller,
die Gruppe der sozialistischen Studenten, be-
haupteten, daß die Frage der Wahlbündnisse
nicht rein taktischer, sondern ebenso sehr prin-
zipieller Natur sei. Die Bündnisse hinderten
die Partei daran, eine wahre Klaffenpartei
zu sein. Mit dem Augenblick, mit dem die
politische Handlungsweise nicht streng den
ökonomischen Verhältnissen entspräche, müßte
sie erfolglos sein, die Arbeiter zu Verirrungen
führen und ihnen Enttäuschungen bringen. Ver-
suche wären jetzt überflüssig; die letzten Wahlen
hätten auch vom rein praktischen Gesichtspunkte
aus gezeigt, daß wir von einen: Bündniß mit
den bürgerlichen Parteien nichts zu erwarten
hätten. Für Jeden, der den letzten Wahl-
kampf genau verfolgt hätte, wäre es klar, daß
man sich aufs Aengstlichste davor hüten müsse,
den politischen Kämpfen im Leben der Partei
eine zu große Wichtigkeit beizulegen.
Der Kongreß sprach sich indeß mit sehr
großer Majorität für die Aufrechterhaltung
der augenblicklichen Situation aus, d. h. weder
für noch gegen die Bündnisse, sondern überließ
jeder Föderation die Freiheit, nach ihrer Ueber-
zeugung zu handeln. Um dieser Ansicht zum
Siege zu verhelfen, wies man darauf hin,
daß die politische Thätigkeit und der Wahl-
kampf nur Mittel sind, ebenso wie unser Pro-
gramm unmittelbarer Reformen und das Par-
lament nur Werkzeuge der Propaganda sind.
Die Entscheidung des Kongresses ist deshalb
von erheblicher Bedeutung, weil im nächsten
Jahre 28 von unseren 29 Abgeordneten im
Parlament sich der Neuwahl zu unterziehen
haben und in Lüttich, einem der wichtigsten
Wahlbezirke, im Jahre 1894 ein Wahlbündniß
abgeschlossen worden war. In Gent, wo bis-
her die Katholiken geherrscht haben, wird wahr-
scheinlich ein Bündniß mit den Radikalen zu
Stande kommen, die bereits auf kommunalem
Gebiete Verbündete und zwar sehr gute Ver-
bündete der Sozialisten gewesen sind.
Dürfen wir uns Glück dazu wünschen, am
Kampf der politischen Parteien unseres Landes
theil genommen zu haben, und ist es für uns
ein Gewinn gewesen, in das Parlament einge-

treten zu sein? Ich glaube, nur wenige Mit-
glieder der belgischen Arbeiterpartei würden
diese Frage verneinen. Das direkte Resultat
ist mit Ausnahme der Einsetzung eines Ar-
beitsministeriums nicht sehr bedeutend. Sicher-
lich wären aber auch die wenigen arbeiter-
freundlichen Gesetze, zu denen sich die kleri-
kale Majorität gezwungen sah, niemals ohne
die Rücksicht auf die Wahlen zu Stande ge-
kommen.
Dies indirekte Resultat ist für uns das
wichtigste. Man braucht nur die letzten zehn
Jahre zu überschauen, um sich von der unge-
heuren Umgestaltung der öffentlichen Meinung
Rechenschaft zu geben. Ihre ganze Aufmerk-
samkeit konzentrirt sich heute auf die sozialen
Fragen; damals sprach man von ihnen nicht.
Um uns zu bekämpfen, müssen uns unsere
Gegner Konzessionen machen. Das Arbeits-
ministerium ist eine dieser Konzessionen, die
gegen uns gerichtet sind. Wie sehr nützt sie
uns! Selbst wenn diese Einrichtung uns als
praktisches Resultat noch nicht befriedigt, so
müssen wir uns doch zu den Enquetearbeiten,
zu der Sammlung alles die Arbeiterfrage be-
treffenden Materials beglückwünschen. Ist es
für uns nicht von Bedeutung, daß man im
März dieses Jahres zum ersten Male in
Belgien ein Budget der Arbeit berathen hat?
In elf Sitzungen haben unsere Abgeordneten
die Aufmerksamkeit der Regierung und des
Landes auf eine Anzahl Fragen gerichtet, mit
denen sich die Kammer sonst niemals beschäf-
tigt hätte. *
Wir haben das große Glück, daß die par-
lamentarische Thätigkeit nicht alle Aufmerk-
samkeit auf sich zieht. Der Abgeordnete steht
sicher auf Vorposten und tritt mehr hervor als
ein einfacher Genosse; aber daraus entsteht
darum noch nicht die Neigung zu persönlicher
Herrschaft. Weder die Partei noch irgend eine
ihrer Sektionen sind die Anhängsel eines
Mannes. Da wir von den Führern unserer
Partei sprechen, so gestatte man uns hier die-
jenigen vorzuführen, die sich durch ihr Talent,
ihre Thätigkeit, die Dauer ihrer Zugehörigkeit
zur Partei auszeichnen.
Hector Denis. Es ist nicht leicht, in
wenigen Zeilen die Biographie eines Mannes
zu geben, dessen Leben seit dreißig Jahren eine
fortgesetzte Theilnahme an allen politischen
und ökonomischen Bewegungen unseres Landes
war, der neben den erschöpfenden Berufs-
geschäften des Gerichtssaales und des Lehr-
stuhles sich philosophischen, ökonomischen und
soziologischen Arbeiten widmete und durch sie
sich einen Platz in den vordersten Reihen der
belgischen sowie der internationalen Wissen-
schaft errang.
Hector Denis wurde im Jahre 1842 in
Braine-le-Comte geboren. 186S verließ er die
Brüsseler Universität als Doktor der Rechte,
da er aber den Wissenschaften, welche er bis
dahin studirt hatte, eine solide Grundlage zu
geben wünschte, kehrte er zur Universität zurück,
um Naturwissenschaften zu studiren, und wurde
1868 zum Doktor promovirt. 1865 schloß sich
Denis mit de Paepe, de Greef, Arnvuld,
Hins u. A. der Internationalen an, einer Be-
wegung, die alle freien und selbstlosen Geister
an sich zog. Die Ankunft Proudhons und
anderer Geächteter des zweiten Kaiserreiches
in Brüssel trug viel dazu bei, den Geist der
damaligen Jugend sozialistischen Ideen zuzu-
neigen. In der Philosophie war H. Denis
hauptsächlich ein Schüler von Aug. Comte
und Littrs.
Noch als junger Mann war er Mitarbeiter
an den verschiedenen demokratischen litera-
 
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