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2633

Dcr alte Derwisch setzte sich schweigend wieder vor sein großes Buch,
während dcr Kalis eilend nach dem Palaste zurückkehrte, um alsbald
seine Befehle zur Rüstung einer Reise zu ertheilen, deren Ziel er Niemand
anvertraute, während er im Geheimen Kundschafter anssandte, um den
Weg znm Tempel der Wahrheit zu erforschen.

Schmal war der Pfad, den der junge Kalif mit seinem Gefolge zu
durchmessen hatte; Dor-
nen ragten rechts und
links hervor und rissen
manches von seinem
Flitterstaate ab. Keu-
chend und schwitzend ge-
langte er zuletzt in eine
Lichtung, bedeckt mit
Haidekraut. Am ent-
gegengesetzten Ende der
Lichtung aber erhob sich
ernst und einfach ein
ans dunklem Porphyr
errichteter Tempel mit
dorischem Sänlengang.

Die Priesterin, die dem
Ankömmling hier ent-
gegentrat, hatte ihre Ge-
sichtszüge halb mit einem
lang herabfließenden
schwarzen Schleier um-
hüllt, und schwarz auch
tvar das Gewand, wel-
ches um die majestätische
Gestalt bis zu den
Füßen herabwallte.

„Wer bist Du und
was suchst Du hier?"
rief sic dem Ankömmling
mit reiner, metallener
Stimme entgegen.

„JchsnchedieWahr-
heit, um durch sie zur
Gerechtigkeit und Weis-
heit zu gelangen", er-
widerte der junge Herr-
scher mit zuversichtlicher
Stimme.

„So sei willkommen
im Namen der Mensch-
heit", ertönte es zurück,
und mit leichter Hand-
bewegung winkte sie ei-
nen priesterlich gekleide-
ten Alten herbei, welcher
dem Derwisch fast auf
das Haar glich.

„Junger Mann",
begann derselbe, auf ihn
zutretend, mit wohlwollendem Tone . . .

„Ich bin der Kalif dieses Reiches", erwiderte dcr Angeredete un-
gestüm und ärgerlich darüber, daß die Pricstcrin nicht selbst mit ihm
tveiter verkehren tvollte.

„Welches Reiches?" fragte der Alte kühl.

„Nun, dieses Reiches selbstverständlich, und Du, als mein llnter-
than solltest das doch wissen."

„Hier vor der Wahrheit giebt es nur Menschen, wir fragen incht
wer sic sind, Jeder gilt uns gleichviel."

Zorn

„Hinweg, hinweg, man schliigt die Wahrheit nicht tobt."

„Gleichviel? Bin ich in Deinen Angen etwa nicht mehr als ein
Ackcrknecht?"

„Der Ackerknecht ist ein Mensch, wie Du ein Mensch bist."

„Und ein Kalif gilt Dir nicht mehr als ein Sklave?"

„Nicht mehr und nicht minder."

„Elender", rief dcr junge Herrscher in blitzschnell aufloderndem
, „sofort sollst Du die Wahrheit des Gegentheils erfahren!"

Und seine Damascenerklinge ziehend schlug er dem ehrwürdigen

Greise das Haupt vom
Rnnipfe.

Einen Atlgenblick
stand er, von dein Be-
wußtsein seiner raschen
That wie vernichtet; als
er aber aufblickte, stan-
den zwei Andere, ähn-
lich dein Enthaupteten
vor ihm und schienen
ihn mitleidig lächelnd
anzublicken.

Da wallte sein Blut
von Neuein und init
zwei schnellen Streichen
ließ er sie dasselbe Schick-
sal erleideii.

Aber ailS den
Zweien wurden ihrer
Bier. Mit blutunter-
laufenen Angen stand
er da, sein Grimm
erreichte den höchsten
Grad.

„Heran,Leute", rief
er dem Gefolge zu,
„laßt sehen, wie viel
Köpfe der Hochverrath
hat."

Mit wildem Ge-
schrei und hochgeschwun-
genen Säbeln stürzte
das Gefolge heran, aber
so viele sie auch nieder-
säbelten, immer wieder
sahen sie an Stelle des
cineir Blutzeugen der
Wahrheit zwei neue ent-
stehen.

Als dies der junge
Herrscher sah, bedeckte
er entsetzt sein Antlitz
mit beit Händen und
rief scineir von der eit-
len Blntarbeit ermatte-
ten Leuten zu:

„Hinweg, hinweg!
man schlägt die Wahr-
heit nicht todt!" Und
fort ging es über Stock und Stein in rasender Flucht der Heimat zu.
Uebcrall wandten sich bei seinem Vorübereilen die Menschen mit Entsetzen
von ihm, bis er ivieder in seiner Hauptstadt anlangte, wo Schmeichler
und Höflinge vor ihm auf die Kniee sanken und ihn wie eine Gottheit
verehrten.

Der junge Kalif hat darauf lange Jahre regiert, ist niemals
tvieder auf den Gedanken gekommen, bis zum Tempel der Wahrheit
vorzudringen, aber in allen Historiken ist's zu lesen, daß er ein Iveiser
und gerechter Herrscher gewesen — wie seine Vorfahren. A
 
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