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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 15.1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.8184#0023
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— 2645

Partei in ihrer Gesammtheit gehen wir jetzt zur
näheren Kennzeichnung der einzelnen sozia-
listischen Richtungen über.

m' ®,'e "französische Arbeiterpartei"
(„Marxisten" oder „Guesdisten") ist die stärkste
sozialistische Organisation. Sie zählt die meisten
Anhänger und ist, wie bereits oben angedeutet,
die einzige Organisation, die so ziemlich in
allen industriellen Gegenden des Landes außer
Paris verbreitet ist. Die Begründer der Ar-
beiterpartei, Jules Guesde und Paul
Lafargue, waren es auch, die auf dem
Marseiller Kongreß 1879 zuerst die französische
Bewegung auf den Boden der modernen inter-
nationalen Sozialdemokratie hinübergeleitet
haben bezw. hinüberzuleiten versuchten. Und
seit der Spaltung von 1882 haben sie uner-
müdlich für den „marxistischen" Sozialismus
gewirkt, Guesde mehr als Agitator und
Organisator, Lafargue mehr als Schriftsteller.
Redenden Beiden ist noch Gabriel Deville
zu nennen, Verfasser einer trefflichen Populari-
sation des Marxschen „Kapital" und sozialisti-
scher Abgeordneter von Paris seit Juni 1896.

Die Verbreitung der Arbeiterpartei erklärt
sich aus dein Charakter ihres Programins und
ihrer Taktik, welche sich in den leitenden
Grundsätzen mit dem Programm und der
Taktik der deutschen Sozialdemokratie decken
und zum geistigen Rüstzeug einer Massen-
bewegung vortrefflich geeignet sind. Die Pariser
Organisation der Partei ist dagegen bisher
über sehr bescheidene Anfänge noch nicht
hinausgekommen, nicht so sehr deshalb, weil
Paris noch eine zahlreiche kleinbürgerliche Be-
völkerung aufweist, deren Einfluß sich auch auf
die Denkweise des Proletariats geltend macht,
als vielmehr, weil die anderen sozialistischen
Richtungen in Paris ihren historischen Boden
haben. Es ist überhaupt für die örtliche Ver-
breitung jeder einzelnen Richtung von ent-
scheidender Bedeutung, ob sie auf frischem
Boden ihre Propaganda beginnt oder bereits
andere Organisationen ihr zuvorgekommen sind.
In der Provinz wird der „Besitzstand" der in
einer Gegend eingewurzelten Organisation meist
gar nicht bestritten. Und wenn es in Paris
noch immer von der sozialistischen Propaganda
unberührte Schichten giebt, so sind doch gerade
die für den Sozialismus empfänglichsten Ele-
mente bereits in die Kadres einer bestinnnten
Organisation eingefügt. Daher das äußerst
langsame Vordringen der Arbeiterpartei in der
Hauptstadt. Sie hat hier 1893 blos 2314
Stimmen erhalten und auch in den Gemeinde-
wahlen von 1896 keinen einzigen Kandidaten
durchgebracht.

In der Provinz hat sie dagegen im Jahre
1893 in 30 Departements (von 86) und in 96
Wahlkreisen (von 581) insgesammt 247 742
Stimmen auf ihre eigenen oder ihr nahe-
stehende Kandidaten vereinigt. Zu letzteren
gehört auch Jean Jaurös. Im Ganzen siegte
sie in elf Wahlkreisen und trat mit vier
ihrer Organisation angehörenden Abgeordneten
in die Kammer ein: Guesde für Roubaix;
Chauvin fürSaint-Denis (in der Nähe von
Paris), Coiffeur, Organisator der Pariser
Coiffeurgewerkschaft; Jour de für Bordeaux,
Abgeordneter seit 1889, ehemaliger Buchhalter,
und Sauvanet für Montlu^on, denen sich
ein halbes Jahr später als fünfter Abgeord-
neter der Volkslehrer Carnaud-Marseille
zugesellte. Andererseits verlor sie die Sitze
Paul Lafargues-Lille und Ferrouls-Rarbonne.
Das waren aber keine moralischen Mißerfolge.
Lasargues Wiederwahl war durch die Hinzu-
fügung klerikaler Landgemeinden zum alten
Wahlkreis vereitelt worden, und Ferroul, der
1078 Stimmen mehr erhielt als im Jahr 1889,

wurde durch eine notorische amtliche Wahl-
fälschung um das Mandat geprellt.

Die Departementswahlen (für die
General- und Bezirksräthe) von 1895 und
namentlich die Gemeinde wählen von 1896
zeigten das weitere Wachsthum der Partei
in der Provinz. Die Stimmenzahl stieg im
Vergleich mit den Gemeindewahlen von 1892
von rund 157000 auf über 300000, die Zahl
der Gemeindemandate von 786 auf 1176. Zu
den 29 behaupteten Gemeinderäthen kamen
ein paar Dutzend neugewonnener Gemeinden
hinzu, darunter Fourmies, Cette, Roanne,
Calais und Lille, die größte Stadt Nord-
frankreichs, wo der Buchdrucker Delory, ein
bewährter Vorkämpfer der Partei, zum Bürger-
meister gewählt wurde. Der Verlust von Lille
that der herrschenden Klasse ganz besonders
weh. Als daher die Partei zwei Monate später
die Vertreter der deutschen Sozialdemokratie,
Fischer, Liebknecht und Singer, zu ihrem in
Lille abgehaltenen Jahreskongreß einlud, be-
nutzte der dortige klerikal-opportunistische
Klüngel die Gelegenheit, um im ganzen Nord-
departement, der Hochburg der Partei, mit
offener Unterstützung der Regierungsorgane
eine gewaltthätige chauvinistische Hatz gegen
die Arbeiterpartei zu veranstalten. Das Resul-
tat war aber gleich Null. Die nachfolgenden
kommunalen und departementalen Ersatzwahlen
im Norden haben der Partei weitere Erfolge
gebracht. — Eine indirekte Folge des Liller
Wahlsiegs war der formelle Beitritt des sozia-
listisch-radikalen Abgeordneten von Lille, Oberst
Sever, zur Partei; derselbe hatte schon bei
den früheren Gemeindewahlen, ebenso wie
seine früheren Parteifreunde, Hand in Hand
mit der Arbeiterpartei gegen den Ordnungs-
brei gekämpft.

Die Erfolge der Arbeiterpartei waren auch
von günstigem Einfluß auf die innere Ent-
wicklung der anderen sozialistischen Richtungen.
Ihre Anschauungen und Kampfesmethoden
wurden immer mehr zum Gemeingut der ge-
sammten sozialistischen Bewegung.

Neben dem allgemeinen Parteiprogramm,
das 1880 unter Mitwirkung von Marx und
Engels ausgearbeitet wurde, hat sich die
Arbeiterpartei drei Spezialprogramme ge-
geben: das bereits erwähnte Kommunalpro-
gramm (Lyoner Parteitag 1891), das Agrar-
programm (Parteitage von Marseille 1892 und
Nantes 1894) und das maritime Programm,
Forderungen im Interesse der Seeleute und
Fischer (Parteitag von Romilly 1898).

Der Werth der drei Spezialprogramme ist
sehr verschieden. Das Kommunalprogramm
hat sich als ein vorzügliches Agitationsmittel
bei den Gemeindewahlen und zugleich als ein
praktisches Aktionsprogramm für die von der
Partei eroberten Gemeinderäthe bewährt. Das
maritime Programm, entstanden auf Anregung
der in den Hafenstädten wirkenden Genossen,
entspricht ebenfalls den Bedürfnissen der Agi-
tation unter den Proletariern der Schiffahrt
und Fischerei. Beide Programme sind, prin-
zipiell genommen, eine Anwendung der allge-
meinen Grundsätze der Partei aus besondere
Fälle. Ganz anders steht es in dieser Be-
ziehung um das Agrarprogramm. Im
Jahre 1892 im Hinblick auf die Kammerwahlen
des folgenden Jahres beschlossen, hat es
zwar eine bedeutende werbende Kraft auf die
kleinbäuerliche Wählerschaft ausgeübt, gerade
aber deshalb, weil es vom Standpunkt des
proletarischen Sozialismus anfechtbar ist. Das
gilt insbesondere von seiner Tendenz, den
bäuerlichen Zwergbesitz zu schützen. Der Ver-
such des Parteitages von Nantes 1894, den
Widerspruch zwischen dieser Tendenz und dem

proletarischen Sozialismus in einer dem Pro-
gramm vorausgeschickten Prinzipienerklärung
zu versöhnen, hat das Ganze eher noch ver-
schlechtert. Es wird darin nämlich geradezu
für eine „gebieterische Pflicht" des Sozialismus
erklärt, den „selbstarbeitenden Eigenthümern
den Besitz ihrer Landparzellen zu erhalten"
und dieser als Pflicht bezeichnete Schutz sogar
aus die Pächter und Halbpächter ausgedehnt,
die „Taglöhner ausbeuten", weil sie „durch
die auf ihnen selber lastende Ausbeutung dazu
gewissermaßen gezwungen sind".

Das Bestreben, die Taktik auf den un-
mittelbaren Erfolg zuzuschneiden, macht sich
hie und da auch in den städtischen Wahl-
aktionen geltend. Im übrigen ist die Taktik der
Augenblickserfolge, die—mit einer einzigen Aus-
nahme — bei den übrigen sozialistischen Rich-
tungen noch viel ausgesprochener austritt, zu
einem guten Theil auf die Vorliebe des fran-
zösischen Naturells für äußere Glanzeffekte
zurückzuführen.

2. Diese.Ausnahme bildet die „sozialistis ch-
revolutionäre Arbeiterpartei", gemein-
hin „Allemanisten"-Organisation nachihrem
Führer, dem Drucker Jean Alleman e, einem
ehemaligen Kommunekämpfer genannt. Leider
ist die Prinzipienfestigkeit dieser Richtung im
Grunde nichts als verschrobene, sektirerische
Prinzipienreiterei.

Die allemanistische Organisation entstand
im Jahr 1890 in Folge einer Spaltung inner-
halb der bis dahin von Brousse geleiteten
und mißleiteten Partei der Possibilisten. Sie
war ein Protest gegen die in ihr eingerissene
gesinnungslose Kompromißmacherei. So weit
war man aufder abschüssigenBahnderKompro-
misse, namentlich zur Zeit des Boulangismus,
gelangt, daß man mit Hilfe der Geheimfonds
der Regierung eine tägliche Zeitung, „Die
Arbeiterpartei" (!) zur Bekämpfung des Bou-
langismus herausgab und auch sonst mit den
Bourgeoisparteien durch Dick und Dünn ging.
Die früheren Possibilisten (possibie—möglich,
das Eintreten für „mögliche" Reformen, deren
Möglichkeit aber durch das jeweilige kleinliche
Interesse des Augenblicks bestimmt wurde)
verfielen unter Allemanes Führung in das
entgegengesetzte Extrem der wüthendsten Prin-
zipienreiterei.

Das Sektirerthum der Allemanisten macht
sich vor Allem in ihrem feindlichen Verhalten
zu den übrigen sozialistischen Richtungen gel-
tend. In der Kammer stehen ihre Abgeord-
neten abseits von der sozialistischen Fraktion,*
trotzdem sie in den prinzipiellen Fragen gar
nicht anders als mit den übrigen Sozialisten
stimmen können. Bei Stichwahlen, an denen die
Richtung nicht mit eigenen Kandidaten be-
theiligt ist, lautet ihre Parole unabänderlich
auf strengste Stimmenthaltung, auch wenn ein
Sozialist im Kampfe gegen den schlimmsten
Reaktionär steht.

Das grundsätzliche Unterscheidungsmerkmal
der Allemanisten ist der Generalstreik. Die
soziale Revolution, der starre, abstrakte Maß-
stab alles Thuns und Lassens der „sozialistisch-
revolutionären Arbeiterpartei", kann ihrer An-
sicht nach einzig und allein durch den General-
streik herbeigeführt und siegreich ausgekämpft
werden. Und mit dem gläubigen Eifer der
Besitzer eines alleinseligmachenden religiösen
Dogmas erklären die Allemanisten die sozialisti-
schen Gegner des Generalstreiks für Verräther
am Proletariat, an der sozialen Revolution.

* Kurioser Weise sitze» die allemanistische» Abgeordneten,
nur ihre» Unterschied von den sozialistischen Ketzern auch
äußerlich zu marktren, auf de» Bänken der äußersten Rechten,
mitten unter den Ilerilal-monarchistischen Hochadeligen und
Geistlichen.

Louis Heritier: Die IranMche Revolution. Geschichte der französischen Bewegung von 1848 und

Uomplet in 25 Heften k 20 Pf. Gebunden m. 6.S0. dtzx zweiten Republik.
 
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