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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 15.1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.8184#0024
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•. 2646

Ein weiteres Kennzeichen der Allemanisten
ist das Dogma von der „schwieligen Faust",
ein Erbstück aus der Zeit des Brousseschen
Possibilismus, der von ihm in demagogischer
Weise gegen die Richtung der Kopfarbeiter
Guesde und Lafargue Gebrauch machte. Den
Allemanisten aber ist es Ernst mit dem Sah,
daß nur Handarbeiter am Befreiungswerk
wirken dürfender Verballhornung des bekannten
Satzes: „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann
nur das Werk der Arbeiter selbst sein". Da-
mithängt auch die grobmechanische Auffassung
vom Klassenkampf zusammen, mit der die
Allemanisten ihr — beiläufig mehr in persön-
lichen Ursachen wurzelndes ^ Mißtrauen gegen
Sozialisten bürgerlichenUrsprungs rechtfertigen.
In der Verfassung ihrer Organisation kommt
das Dogma von der „schwieligen Faust" in
dem Statut zum Ausdruck, das Parteimit-
glieder, die Unternehmer (Kleinmeister) sind,
von der Wahl in das Generalsekretariat
(Parteivorstand) ausschließt? Ebenso sind
Abgeordnete, Gemeinde- und Departemental-
rathsmitglieder von dem Generalsekretariat
ausgeschlossen, mögen sie nun von Beruf Hand-
arbeiter im vollstem Sinne des Wortes und
persönlich die tüchtigsten Männer sein.

Alle Vorsichtsmaßregeln gegen den „Per-
sonenkultus" hindern aber freilich nicht, daß in
Wirklichkeit Allemane, weil eben der befähigtste
und energischste Charakter, mindestens ebenso
einflußreich in seiner Organisation ist, wie der
von den Possibilisten und Allemanisten so arg
verschrieene „Diktator" Jules Guesde in der
Arbeiterpartei.

In den Kammerwahlen von 1893 hat sie
in Paris 48021, in sechs bei Paris gelegenen
Wahlkreisen 14640 und in vier Wahlkreisen
der Provinz (darunter drei im Ardennen-
Departement) 14880 Stimmen, im Ganzen
also 72241 Stimmen erhalten. In denselben
Wahlen brachte sie fünf Kandidaten durch,
vier in Paris, einen in Saint-Denis bei Paris:
Avez, zweiter Bureauchef in der Diskonto-
bank (nach dessen Tode 1896 wurde der eben-
falls allemanistische Kandidat Graveur Renou
gewählt), Dejeante und Faberot, beide
Hutmacher, Groussier, Zeichner, und Tous-
saint, Kollektor in einer Kreditanstalt.

Wie gering aber der Einfluß der Partei-
organisation auf die Wählerschaft ist, trotzdem
die Allemanisten strammer organisirt sind als
die übrigen Pariser Richtungen, zeigte sich
gelegentlich der Spaltung von 1896. Der
Anlaß der Spaltung war ganz eigenartiger
Natur. Die Allemanisten verlangen in der
Regel von ihren Deputirten einen jährlichen
Beitrag an die Parteikasse von 5000 Franken
(die vom Staate gezahlten Diäten betragen
9000 Franken) und von ihren Pariser Ge-
meinderathsmitgliedern (mit 6000 Franken
Diäten) einen solchen von 2000 Franken —
eine immerhin begreifliche Einrichtung beim
ständigen Geldmangel der französischen Or-
ganisationen. Dagegen werden die Agitations-
kosten der Parteivertreter von der Parteikasse
gezahlt. Anfang 1896 kam es nun über diese,
Frage zum Streit und zum Austritt der Ab- j
geordneten Dejeante und Groussier, sowie!
der Gemeindevertreter der entsprechenden!
Pariser Wahlbezirke, Berthaut und Faillet,
aus der Partei. Die Ausgetretenen hielten
Wort und reichten ihre Demission ein. (Die j
allemanistische Organisation fordert nämlich

* Auf dem letzten Kongreß sah man sich jedoch gezwungen,
im Hinblick auf die bevorstehenden Kammermahlen die Kandi-
datur von Unternehmern zu gestatten. Die bezügliche Reso-
lution wendet sich überhaupt indirekt gegen die reine Doktrin
der „schwieligen Faust". Es bleibt aber abzuwarten, ob die-
selbe den Charakter der bisherigen allemanistischen Agitation
ändern wird.

j ihren Kandidaten int Voraus eine Blanko-
demission ab; dieselbe ist allerdings nicht rechts-
giltig, da das Gesetz ein Jmperativmandat
nicht anerkennt.) Und das Resultat? Die
Bier wurden sämmtlich mit größerer Stimmen-
zahl wiedergewählt, während die gegen sie aus-
gestellten Kandidaten der Parteiorganisation,

> darunter Allemane, eine verschwindend kleine
Stimmenzahl erhielten. — Bei den Pariser
Gemeindewahlen von 1896 verloren die Alle-
manisten noch einen dritten Sitz, so daß sie
augenblicklich in der Kammer nur noch drei
und im Pariser Gemeinderath nur noch einen
Vertreter haben.

Die vier Ausgetretenen gründeten kurz
nachher zusammen mit den Blanquisten eine
neue Organisation, die „Revolutionäre kom-
munistische Allianz", der sich auch einige bis
dahin allemanistische Organisationen in der
! Provinz, namentlich in Dijon, anschlossen.
Die Abgeordneten Dejeante und Groussier
traten der sozialistischen Kammerfraktion bei.

3. Die Blanquisten haben keine eigent-
liche Parteiorganisation. Das „Revolutio-
näre Zentralkomite" — dies der offizielle
Name der Richtung — ist ein Generalstab
ohne eine fest organisirte Armee. Es setzt sich
aus den Delegirten der Komites von Paris
und Umgebung zusammen; je zehn Mitglieder
oder eine Bruchzahl von zehn entsenden immer
einen Delegirten. Die Exekutive des Zentral-
komites ist die „Administrative Kommission",
die aus fünfzehn Mitgliedern, darunter sämmt-
liche Abgeordnete und Pariser Gemeindever-
treter der Richtung, besteht.

Das Haupt der Blanquisten ist Edouard
Vaillant, Mitglied der Pariser Kommune
von 1871, ein Mann, der seine Hingebung an
die Sache des Proletariats durch sein ganzes
Leben bewiesen hat. Da es an einer breiten
organisatorischen Grundlage fehlt, wodurch
auch die Abhaltung von allgemeinen Kongressen
unmöglich gemacht wird, decken sich Programm
und Taktik der Richtung mit den Ansichten
! Baillants, der seinen engeren Gesinnungs-
genossen an Wissen und Erfahrung unendlich
überlegen ist und überhaupt zu den kenntniß-
reichsten Vorkämpfern des europäischen Sozia-
lismus gehört. Von den spezifischen Lehren
seines Meisters, Auguste Blanqui, vom
alten verschwörerischen Blanquismus hat
Vaillant schließlich nicht viel mehr als das
stete Bereitsein zu einer nahe bevorstehenden
revolutionären Aktion beibehalten. Sonst
steht Baillants Richtung den Grundprinzipien
der internationalen Sozialdemokratie ebenso
nahe, wie Guesdes Arbeiterpartei. In der
Prinzipienerklärung vom Februar 1892 erklärte
das Zentralkomite ausdrücklich sämmtliche Be-
schlüsse der internationalen sozialistischen Kon-
gresse zu seinem allgemeinen Programin.

Andererseits sind die Blanquisten auch
Anhänger des Generalstreiks geworden, dem
sie allerdings die alleinseligmachende revo-
lutionäre Kraft keineswegs beimessen, wie die
Allemanisten.

Ein besonders hervorstechender sympathischer
Zug der Vaillantschen Richtung ist das Streben
nach Vereinigung der französischen Sozialisten
aller Richtungen. So haben sie jüngst im
Hinblick auf die Wahlen von 1898 beschlossen,
gegen die bisherigen Abgeordneten der anderen
sozialistischen Organisationen keine Kandidaten
aufzustellen, ausgenommen wenn jene die einer
Wiederwahl sich unterziehenden blanquistischen
Kandidaten bekämpfen sollten.

Der Hauptsitz der Blanquisten ist Paris und
Umgebung. Daneben besitzen sie eine Anzahl Or-
ganisationen in einem Dutzend Departements,
namentlich in Mittelfrankreich, welche jedoch

| zum Pariser Zentralkomite in sehr losen Be-
ziehungen stehen. In der Kammer sind sie
seit 1893 durch fünf Abgeordnete: E. Baudin
aus dem Departement Cher (zuerst 1889 ge-
wählt), Chauviöre, Sembat und Vail-
lant aus Paris und Walther aus Saint-
Denis (bei Paris), welche insgesammt 29859
Stimmen auf sich vereinigt haben. Im Pariser
Gemeinderath haben die Blanquisten nur einen
Vertreter, E. Landrin; ihren zweiten Ge-
meindevertreter, E. Moreau, schlossen sie aus
der Organisation aus, weil er für die Zaren-
empfangskredite gestimmt hatte. Im Departe-
ment Cher, ihrer unbestrittenen Domäne, sowie
in mehreren umliegenden Departements haben
sie eine bedeutende Anzahl Gemeinderäthe
erobert.

4. Die vierte und letzte organisirte
sozialistische Richtung ist der kümmerlicheUeber-
rest der ehemaligen possibilistischen Partei,
nachdem diese von den Allemanisten gesprengt
worden war. Sie gruppirt sich unter dem
Namen „Föderation der sozialistischen
Arbeiter Frankreichs" um den ehemaligen
Führer der Possibilisten, Paul Brousse.
Die „Broussisten" haben nur in wenigen Stadt-
vierteln von Paris und etwa noch im Departe-
ment Jndre-et-Loire Einfluß behalten. Von
den zwei Pariser Kammermandaten, welche
ihnen 1893 zugefallen waren, verloren sie 1896
dasjenige des verstorbenen Prudent-Dervilliers
an einen „auch-sozialistischen" Kandidaten, der
bis heute gesondert existirenden Gruppe der-
jenigen Blanquisten, die sich dem Boulangis-
mus ängeschlossen hatten. Und bei den Pariser
Gemeindewahlen von 1896 verloren sie einen
von den früheren vier Sitzen an einen „sozia-
listisch-radikalen" Sitzjäger. Brousse selber sitzt
im Pariser Gemeinderath seit 1887.

5. Außerhalb der skizzirten vier Organi-
sationen stehen die „Unabhängigen", so
genannt, weil sie keiner der alten Organisationen
angehören und auch keine gemeinsame Organi-
sation haben — ein Produkt der Zersplitte-
rung des französischen Sozialismus. Unter
den „Unabhängigen" findet man schier ebenso
viele Schattirungen wie Vertreter, wie z. B.
den einflußreichen Chefredakteur des Pariser
„Jntransigeant", Henri Rochefort. Die Un-
abhängigen verwerfen den Internationalismus,
und einzelne ihrer Vertreter sind, wie Rochefort,
sogar rabiate Chauvinisten. ■— Bei alledem
sind es die „Unabhängigen", die in der Kammer
und im Pariser Gemeinderath am stärksten
vertreten sind.

Soweit der Verfasser.

Was aber, so fragen wir, lehrt uns die
Geschichte der sozialistischen Bewegung in
Frankreich? Die alte Lehre, daß die Verhält-
nisse stärker sind als die Menschen und daß
trotz aller selbstsüchtigen Rechthaberei, Be-
schränktheit und Eitelkeit derselben eine ge-
schichtliche Massenbewegung, die von dem
Gange der ökonomischen Entwicklung getragen
wird, ruhig ihren Weg verfolgt. So lange
die sozialistische Bewegung in den Kinder-
schuhen steckt, haben wir Spaltungen über
Spaltungen und grimme Fehden zwischen den
zersplitterten Organisationen. Sobald aber
die sozialistische Lehre nicht mehr eine kleine
Elite, sondern die großen Massen ergriffen
hat, sobald sich die anfängliche Sektenbewegung
zu einer politischen Parteibewegung weiter-
gebildet hat, wird auch der Zug nach Ein-
heit, nach Zusammenfassung aller Streitkräfte
unwiderstehlich. Es muß zu einer großen ein-
heitlichen Partei kommen, und die langsam
nach schweren Kämpfen gewonnene Einheit
kann nicht wieder verloren gehen.

Verantwortlich für die Redaktion Georg Vaßler in Stuttgart. — Druck und Verlag von I. H. W. Dietz Rachf. (G. m. b. H.) in Stuttgart.
 
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