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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 15.1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.8184#0140
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2762

„Kommen sie wieder?" unterbrach jetzt die
Stickende die peinliche Stille, unruhig von ihrer
Arbeit aufsehend.

„Es scheint so", murrte Alfred, indem sich
sein Gesicht noch finsterer umzog. „Dort kommen
sie um die Ecke", setzte er hinzu und stampfte
den klirrenden Fuß grimmig aus den Boden.

Ein lauter, roher Gesang, der sich von Mi-
nute zu Minute verstärkte, ward hörbar; es
war die alte schlesische Volksmelodie: „Es liegt
ein Schloß in Oesterreich", die aber jetzt eine
ungeahnte, aufregende Kraft haben mußte, denn
immer wilder wurde der Gesang, zu tollem
Johlen und Brüllen begann er sich an einzelnen
Stellen zu steigern und der Zuhörer, der den
Blick auf die Heranziehenden warf, mußte un-
willkürlich an das ira, 9a ira“ der fran-
zösischen Völksmassen denken. Die Frau war
an das Fenster gesprungen und sah, hinter den
Gardinen verborgen, mit angstvollem Blicke die
Straße entlang. Ein Menschenhaufen, einige
Hundert stark, Männer und Weiber, wälzte
sich unter fortwährendem Schreien und Singen
auf das Fabrikgebäude los, man konnte schon
deutlich die Worte des der Melodie unter-
gelegten Textes verstehe».

Es ist im Ort hier ein Gericht
Weit schlimmer als die Vehmen,

Wo man nicht erst das Urtheil spricht.

Das Leben schnell zu nehmen.

Hier wird der Mensch zu Tod' gequält.

Hier ist die Folterkammer,

Hier werden Seufzer viel gezählt
Als Zeugen von dem Jammer.

Ihr Schurken all', ihr Satansbrut,

Ihr höllischen Dämone,

Ihr freßt der Armen Hab' und Gut
Und Fluch wird Euch zum Lohne!

Ihr seid die Quellen aller Noth,

Die hier den Armen drücket,

Ihr seid's, die ihr das trock'ne Brot
Noch von dem Mund ihm rücket!

So klang es in wüthender Begeisterung näher
und immer näher heran. Alfred ergriff den
Klingelzug und gebot dem eintretenden Diener
die Thüren zu schließen. Die Vorsicht war je-
doch unnöthig. In kleiner Entfernung vom
Hause machte die Masse Halt, der Gesang ver-
stummte, aber ein unbändiges Schreien und
Schimpfen brach an seiner Stelle los; Hunderte
von geballten Fäusten streckten sich nach dem
Fenster empor, wo Alfred bemerkt worden war,
Verwünschungen, Flüche und Drohungen flogen
hinauf, bis die Kehlen sich heiser geschrieen und
der Haufen sich ohne weitere Gewaltthat, aber
unter dem fortwährenden Zurufe: „morgen!
morgen!" zerstreute.

Während der ganzen Zeit hatte Alfred, nicht
von seinem Platze weichend, das Auge unver-
wandt auf der tobenden Menge ruhen lassen.
Ihm war wieder der drohende Blick begegnet,
der ihn schon einmal in der Kirche getroffen
hatte, Friedels Blick, und neben diesem hatte
er Wilhelm, den Wüthendsten von Allen, be-
merkt. Jetzt wandte er sich vom Fenster und
maß schweigend und mit großen Schritten das
Zimmer.

„Sie sind einmal wieder fort", begann der
ältere Herr, sich aus seiner Stellung erhebend,
„wird's aber immer so abgehen? Wenn sie
nun frecher werden und, auf ihre Ueberzahl
pochend, ins Haus dringen, wären wir nicht
jeder Gewaltthat ausgesetzt und wäre es nicht
besser, wir brächten jetzt ein kleines Opfer, um
vielleicht unabsehbarem Unglück vorzubeugen?"

Alfred drehte sich rasch um, sein Auge blitzte.
„Wen meinst Du? Das armselige, erbärmliche
Weberpack? Dem willst Du den Triumph
gönnen, uns ins Bockshorn gejagt zu haben?
Sieh, ich will mich lieber von diesen Kanaillen
in Stücke reißen lassen, als mir sagen zu

müssen, nur ein Haar breit gezwungen ge-
wichen zu sein, ertrotzen will und werde ich
keinen Pfennig lassen, und übrigens gebe ich
Dir die Versicherung, daß, wenn selbst das Un-
I denkbare möglich werden und die feige Gesell-
schaft eine Gewaltthat versuchen sollte, ich allein
mit Hilfe meiner Reitpeitsche den ganzen Haufen
inRespekt erhalten wollte, ich kenne meineLeute!"

Kurze Zeit nach diesen Vorgängen erzählten
die öffentlichen Blätter Folgendes:

„Am 4. Juni (1844) Nachmittags bewegte
sich ein Zug von einem Halbtausend Weber
nach dem Fabrikgebäude und verlangte vor den
Fenstern desselben höheren Lohn; statt der Ant-
wort schickte der Herr sein Gesinde mit Stangen
und Prügeln bewaffnet unter die Menge, wäh-
rend aus den Fenstern Steine geworfen wur-
den. Das Handgemenge begann, die Diener-
schaft wurde mit blutigen Köpfen heimgeschickt
und das Werk der Zerstörung nahm seinen
Anfang; schnell waren alle Fenster des palast-
artigen Gebäudes zertrümmert, die Thore und
Thüren gesprengt und die Menge stürzte wie
ein Gebirgsstrom in die Wohnungen selbst ein.
Das Schauspiel, was nun folgte, ist kaum zu
schildern. Die sich in die Schreibstube und das
Lager stürzende Menge bemächtigte sich aller
darin vorhandenen Papiere und Sachen, um
sie zu vernichten. Alle Bücher, Handels- und
Geldpapiere wurden zerrissen und ins Wasser
geworfen, die Maaren sammt dem in den auf-
gebrochenen Kassen sich vorfindenden Gold und
Silber auf die Straße geschleudert, wo Alles,
was der Vernichtung zugänglich war, von dem
sich stündlich mehrenden Volke unbrauchbar ge-
macht wurde. Dann ging es an die Zertrümme-
rung alles Hausgeräthes und dessen kostbaren
Gehalts. Kleider, Juwelen, Schmuck, Glas-
gnd Silbergeschirr wurden theils zertrümmert,
theils entwendet.

Während die Zerstörung im vollen Gange
war, kam der Geistliche des Ortes in seiner
Amtstracht herbei und suchte den empörten
Haufen von fernerer Verwüstung abzuhalten,
und da er seines Charakters und seiner Pflicht-
milde halber hoch im Ansehen stand, so gelang
es ihm auch wirklich, und die Menge, zufrieden
mit dem Vollbrachten, ließ nach und zerstreute
sich, nachdem schon früher alle Versuche der
polizeilichen Gewalten mißglückt waren. — Den
Fabrikherren mit ihrer Familie war es ge-
lungen, sich verborgen zu halten, jetzt bewerk-
stelligten sie ihre Flucht.

Aber die Kunde von dem Aufstande war
weit in die Runde gedrungen, schon um 7 Uhr
langten Massen von Webern aus Langenbielau
an, und mit diesen vereint, begannen die Weber
des Ortes die völlige Plünderung und Demoli-
rung des Etablissements; alles bis auf die
Mauern, sowie die sämmtlichen Maschinen wur-
den in Stücke geschlagen. Die Ermahnungen
des Geistlichen und anderer angesehener Männer
halfen jetzt nichts; sie mußten, von Hohn und
Steinwürfen empfangen, flüchten; die in den
Kellern Vorgefundenen Flaschen und Fässer
waren größtentheils geleert worden; dies und
die Absingung des schon früher erwähnten
Liedes bliesen den Sturm immer neu an, der
erst endete, als die Nacht hereinbrach und es
nichts mehr zu zerstören gab.

Es war früh am Mittwoch, als sich der
Haufen nach Langenbielau in Bewegung setzte.
Dort begann die Zerstörung bei den ersten
Häusern einiger kleinen Fabrikanten; bei der
Nachricht aber, daß Militär im Anzuge sei,
zog man sich im Dorf hinauf und fiel einige
größere Etablissements an. Hierbei beschäftigt,
rückte das Militär ein, die Volkshaufen rotteten

sich zusammen, das Lied brauste auf, und als
der Anführer der Truppen gegen die Menge
ansprengte, warfen sich einige der vordersten
Weber auf ihn und suchten ihn vom Pferde
zu reißen. Jetzt ward scharf gefeuert, die beiden
wüthendsten Angreifer stürzten und der Kampf
ward allgemeiner. Trotzdem mehrere volle
Ladungen gegeben wurden, trotzdem viele in
der Menge sielen, wich diese doch nicht, und
die Truppen zogen sich zurück. Erst nachdem
Verstärkungen an Kavallerie und Artillerie
eingetroffen, gelang es, die Bewegungen zu
brechen und die Fabriken zu besetzen. Die
Haufen zerstreuten sich, und die am nächsten
Tage umherziehenden starken Patrouillen stellten
langsam die Ruhe wieder her." — So weit
der Artikel.

Die Weber hatten ihre Gefallenen bei Seite
geschafft; zu den Meisten fanden sich Angehörige
aus der Masse der mitgelaufenen Frauen und
Kinder. Zwei aber lagen noch da, von Niemand

Langsam trugen sie den Dichter durch das Dorf.

erkannt, von Niemand vermißt. Die Nacht
kam und verbarg sie, und erst, als am andern
Morgen eine neue Rotte Weber vorüberzog,
rief einer von ihnen, die Todten wahrnehmend:
„Jemersch, da liegt a Friede!!"

„A Friede!!" wiederholten die Uebrigen, mit
Aeußerungen des Erstaunens und Bedauerns
die Körper umringend. Es mochte sie gleich-
zeitig ein Gedanke durchdringen, denn wie auf
ein gegebenes Wort bogen sie sich nieder und
hoben den Erkannten auf, ihn hinwegzutragen.
Mehrere hatten auch den zweiten Leichnam in
einer Gefühlsregung ergriffen und als sich nun
der Zug die Straße hinab in Bewegung setzte,
stimmte Einer mit heller Stimme an: „Es ist
im Ort hier ein Gericht", brausend fiel der
Chor ein und so trugen sie den Dichter lang-
sam durch das Dorf, ihm mit seinem eigenen
Liede das Grabgeleite gebend. Der Zweite
aber, den die Bilauer nicht kannten, Friedels
unzertrennlicher Gefährte bei dem ganzen Auf-
stande, bis sie Beide die Kugeln zu Boden ge-
streckt, war Wilhelm. —

Der größte Theil der Aufrührer war, als
sie ihr Werk verloren sahen, ins Gebirge ge-
flohen; man durchsuchte die Häuser nach Ver-
steckten. Als das kleine Haus, das dem alten
Rake gehört hatte, an die Reihe kam, fand man
nur die Leiche eines jungen Mädchens darin.
Neben dem Lager stand ein Topf Wasser und
einige bereits in Gährung übergegangene Fleisch-
überreste.

Bei späterer Verfolgung der Geflüchteten
wurde auch eine Anzahl umherirrender Kinder
aufgegriffen; es läßt sich vermuthen, daß Heinerle
und Liesel sich darunter befanden.

Vtto Ruppius.

(Aus dem „Leuchtthurm", 1846.)

Verantwortlich für die Redaktion Georg Vaßler in Stuttgart. — Druck und Verlag von I. H. W. Dietz Nachf. (G. m. b. H.) in Stuttgart.
 
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