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2761 —

2tuf der Waldblöße stand ein abgerissener Mensch
und was dieser trieb, mußte auch dem Zu-
schauenden merkwürdig genug Vorkommen. Eine
Schlinge von dünnem Strick in der Hand,
hatte er einige kurze Stücke Holz zusammen-
Selesen, diese mit einem alten Taschenmesser
öugeschärft und trieb nun das erste mit einem
Steine in die Rinde eines alten Baumes ein.
'tls eine Probe mit dem unbekleideten Fuße
'hu von der genügenden Festigkeit überzeugt
hatte, schlug er höher und mehr zur Seite das
»weite ein. Dann erklomm er das erste und
befestigte noch höher das dritte. So hatte er
sich eine Art Treppe bis zum ersten Aste ge-
bildet und band nun seinen Strick sorgfältig
a» diesem fest. Dem Beobachter schien eine
Ahnung aufzugehen, mit zwei Sprüngen war
kr über die Lichtung weg und unter dem Baume.
»Halt, Manuel!" rief er, „was willst D' denn
ba machen?"

Der Andere warf einen Blick hinab und
suhr ruhig in seiner Arbeit fort. „Mich auf-
hängen", sagte er gleichmüthig.

„Bist D' denn rapplig? hab's halt gedacht!"
schrie der Erste eifrig, sprang wie ein Eichhorn
säe eingekeilten Stufen hinan und gab dem
S>benstehendcn, ehe dieser sich eines Ueberfalls
Ersatz, einen Stoß, daß er, einen Augenblick
ach am Stricke erhaltend, nothgedrungen zur
Srde springen mußte. Dann band der An-
greifer den Strick los und steckte ihn in die
^"sche. Der Herabgestoßene schien noch nicht
^°cht zu wissen, wie ihm geschehen, und erst als
Zkner vor ihm stand und ihn an beiden Armen
rüttelte, zu sich selbst zu kommen.

„Verdammter, verflickschter Kerl!" eiferte
der Erste, „warum willst D' denn so was thun?
Die Sünde kannst D' dernach nicht wieder gut
machen, was hast D' denn?"

„Kein Brot, kein Geld, Hunger in den Kal-
daunen, wie ’n grimmiger Oderwolf, a Hannel
todtkrank im Bette und seit vorgestern kein
Brinkel für sie", grollte Wilhelm, fast mehr
für sich, „'s ist so wie so alle, und ich mag's
uickst mehr erseh'n, laßt mich los!" rief er und
versuchte sich frei zu machen, aber der Andere
hielt ihn mit starker Faust fest.

. »Bist D' denn ganz dumm? so wird's doch
mcht besser", sagte er und sah einen Augen-
^pfschüttelnd die verstörte hohlwangige
Gestalt an. „Komm' mit", fuhr er fort, „ich
vill Dir was geben, für Dich und Dein Mädel,
dernach will ich Dir eine Geschichte er-
, en, daß Du nicht wieder ans Aufhängen
ntea sollst." Wilhelm sah ihn an, als be-
- slle er ihn nicht, der Andere aber nahm ihn
eim Arme und führte ihn ohne Mühe mit
irch weg.

Da, wo das Dorf in einzelnen, zerstreuten
Kutten ins Gebirge ausläuft, steht an einem
Abhange ein kleines Häuschen; dort wohnte
«vnedel, der Hans Sachs der schlesischen Weber,
und wenn auch keines seiner Lieder gedruckt,
>ttcht einmal niedergeschrieben wurde, so sang
^vch, da sie sämmtlich bekannten Volksmelodien
""gepaßt waren, das ganze Gebirgsvolk seine
Heils wehmüthigen, theils spottenden Verse.
, war selbst Weber, seitdem aber des Lohnes
»u wenig und der Noth so viel geworden, hatte
kf seinen Webstuhl zusammengeschlagen und
,'omand wußte eigentlich recht, wovon er jetzt
a> « er arm, recht arm war, sah man

' Allem, dennoch half er überall, so gut und
^ viel er konnte, und nur die Fabrikanten,
n/ er fortwährend in Prosa und Versen geißelte,
"ren seine ausgemachten Feinde. Alles dies

e ihm eine kleine Berühmtheit, selbst ein
iw'.! - blebergewicht über seine Kameraden
lmb bft8 Wort, das er aussprach,
guu und bestimmte die allgemeine Meinung. —

In dieses Häuschen trat Wilhelm mit seinem
Begleiter und wir haben in Letzterem den Be-
sitzer vor uns.

Friede! schloß die Thür und hieß seinen
Gefährten sich niedersetzen. In einer dunklen
Ecke der Hausflur lag ein Haufen Reisig und
Stroh; dies räumte er bei Seite, griff in ein
darunter verborgen gehaltenes Loch und brachte
zwei wilde Kaninchen zum Vorschein. Die
Schlinge um den Hals des einen ließ auf seine
Todesart schließe». Mit einer wahren Meister-
schaft begann er jetzt das Abbalgen, warf nach
dessen Beendigung die Felle in den unterirdischen
Raum zurück und verbarg diesen wieder sorg-
fältig unter seiner früheren Bedeckung. Das
Fleisch verwahrte er in einem alten Sacke und
reichte es dem verwundert zuschauenden Wilhelni.

„Halt, Manuel! WaS willst D' denn da machen?"

„Da hast Du was", sagte er, „Brot Hab'
ich selber nicht. Wcnn's alle ist, komm' in der
Mittagsstunde wieder her. Nu geh' und ver-
giß nicht, was ich Dir gesagt habe."

Wilhelm trabte nach Hause, seine Augen
glänzten, ihm war wunderseltsam zu Muthe.
Erst, als er wieder in die Stube trat, wo sein
Hannel wie eine umgebrochene, schon verwelkte
Lilie, todtmatt, mit geschlossene» Augen lag,
trat die Gegenwart wieder grell vor ihn hin.
Was seine ahnende Seele vorher gesagt, war
schneller hereingebrochen, als er es selbst ge-
glaubt. Hanna war, noch ehe sie aus dem
Bereich des Verderbens hatte fliehen können,
von Schrecken, Gram und Entbehrung bis ins
innerste Leben vernichtet, niedergeworfen wor-
den, die Kinder bettelten auf den Straßen um-
her, und er hätte, ohne die rettende Hand, im
Gebirge an einem Baume gehangen. Er konnte
sich bei dem letzte» Gedanken eines frostigen
Schauers nicht erwehren.

Das Feuer prasselte unter dem gefüllten
neuen Topfe und Wilhelm trat auf den Zehen
zu dem Lager seines Mädchens.

„Ich Hab' was, Hannel", flüsterte er in ihr
Ohr, „Du kriegst schöne Suppe, bis Du wieder
gesund wirst, und die Herren müssen besseren
Lohn geben, 's arbeit't Niemand mehr, und
thun sie 's nicht, da holen wir uns selber, was
unser gehört, 's wird wieder gut und dernach
könn'n wir uns heirathen; hörst Du's, Hannel?"

Die Kranke öffnete matt die Augen, begegnete
seinem Blicke und es glitt über ihre Züge wie
der flüchtige Sonnenblick an einem trüben
Herbsttag. Dann sielen die Augenlider wieder
zu. Wilhelm aber setzte sich an das Feuer und
bald waren trotz Hunger und Kummer seine Ge-
danken nur bei dem, was Friede! auf dem Wege
zu ihm gesprochen; immer heller wurde sein
Blick, unwillkürlich ballten sich seine Hände
und mit einem derben Schlage auf das eigene
Knie fuhr er auf, als der Topf zischend über-
lief und seine Thätigkeit wieder in Anspruch
nahm. Sorgfältig abgekühlt brachte er in einem
vorhandenen Näpfchen seinem Mädchen die
kräftige Brühe, half der Kranken behutsam in
die Höhe und führte das Gefäß selbst an ihren
Mund, aber nur zwei gierige Züge that sie,
dann überlief ein innerer Schauder ihren ganzen
Körper, sie winkte die Labung heftig von sich
und sank zurück. Wilhelm stand mit unendlich
traurigem Gesichte da und wußte nicht, was
er thun sollte. „Aber, lieb, gut Hannel", sagte
er endlich und kniete, wo ihr Haupt lag, nieder,
„was soll denn werden? Du kannst doch nicht
verhungern wollen? Hannel, was willst D'
denn haben?" Aber das Mädchen antwortete
nicht; ihre Brust arbeitete heftiger, die ein-
gefallenen Wangen fingen an, sich zu röthe»,
ihre Pulse begannen heftiger zu klopfen, bald
glühte der ganze Körper in unnatürlicher Hitze,
während vor innerem Froste die Glieder bebten.
Wilhelm war aufgesprungen und beobachtete
mit steigender Angst, wo er doch nicht zu rathcn
noch zu helfen wußte. „O Jemersch, Jemersch",
rief er, in der Stube auf und ab laufend und
die Hände gegen die Stirn drückend, „was hilft
mir's denn dernach Alles, wenn a Hannel
stirbt?!"

Er setzte sich wieder neben das Lager und
sah das Steigen und Abnehmen des Fiebers,
das mit kurzen Zwischenräumen de» Abend
und die ganze Nacht hindurch währte; er hatte
den Topf, mit frischem Wasser gefüllt, neben
sich gestellt, damit er sogleich das Bedürfnis;
der Kranken befriedigen konnte, er hatte kaum
einige Bissen des Fleisches zu sich genommen
und das Uebrige den heimkehrenden Kindern
überlassen; die erneute Sorge hatte alle an-
deren Gedanken, Hunger und Schlaf vertrieben,
und erst als die frühen Strahlen des Morgen-
roths durch die Fenster schienen, als Hanna
still, wie eine Todte, kaum merkbar athmend,
da lag, sielen ihm die Augen zu.

* . *

Wieder waren einige Tage verstrichen. In
dem Wohnhause der Fabrikherren herrschte eine
stille Spannung. Eins suchte dem Anderen ein
sorgloses Gesicht zu zeigen und dennoch konnte
keinem die Gedrücktheit, die auf allen Gemüthern
lastete, entgehen.

Es wollte Abend werden. In dem Familien-
zimmer saß der ältere Fabrikbesitzer auf dem
reichen Sopha und hatte de» Kopf in die Hand
gestützt, neben ihm seine Frau mit einer Sticke-
rei beschäftigt. Alfred, mit Sporen und Reit-
peitsche, wie immer, stand am Fenster und sah
finster die Straße hinab, die sich von dieser
Seite des Gebäudes vor ihm aufthat. Keines
sprach ein Wort, nur das monotone Picken der
prachtvollen Pendüle war hörbar.
 
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