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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 16.1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.8255#0017
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Du doch morgen wieder zeitig auf de» Beineu
sein!"

„Ich gehe schon, Mütterchen", erwiderte er :
mit schlaftrunkener Stimme, „ich habe mich so
abgerackert und ich bin so müde!"

Er schlief auch sofort ein und bald vernahm
man sein gleichmäßiges, tiefes Athmen.

Schließlich erlosch das Lämpchen und alles
ward still, um morgen mit Tagesanbruch wieder
zu erwachen. Dieses Erwachen hatte immer
seinen Haken. Die Witwe schlief den kur-
zen, wachsamen
Schlaf des Al-
ters, als wollte
sie die Lebens-
stunden vor dem
großen Entschla-
fen verlängern.

Sie erwachte
gleich nach dem
zweiten Hahn-
krähen, und sich
von der Lager-
stätte schleppend,
trippelte sie in
der Stube, eine
Suppe für den
Sohn zuberei-
tend. Im Fenster
erstrahlte dann
der große, stille
Morgenstern,
das Gesicht ihres
schlafenden Soh-
nes beleuchtend.

Die Mutter hef-
tete fortwährend
ihre Augen auf
dieses Gesicht.

Sie möchte schon
gerne ihn auf-
wecken, aber der
tiefe Schlaf des
Burschen hielt sie
davon ab.

„Meinetwe-
gen", flüsterte sie
halblaut, „soll
der Junge noch
etwas schlafen."

Erst als der
schrille Pfiff aus
der Fabrik er-
tönte, den baldi-
gen Schichtwech-
sel ankündend,
rief sie: „Martin,

Martin, steh'auf,
mein Sohn, es
pfeift schon!"

Der Junge
drehte sich der
Wand zu. „Das ist die Amsel", sagte er schlaf-
trunken. Er reckte die Glieder und zog die
Decke über den Kopf, aber die Mutter wich
nicht, bis der Sohn aufstand.

Die Nachtschicht ging nun zu Ende und der
Heizer mußte der erste auf dem Posten sein.
Das wiederholte sich die ganze Woche, selbst
den Sonntag nicht ausgenommen.

Aber einmal — es war noch vor Tages-
anbruch — erwachte Martin von selbst mit einem
Aufschrei aus dem Schlafe und richtete sich auf.

Die Mutter war gleich an seiner Seite.
„Was ist's mit Dir?" frug sie besorgt.

Martin saß auf der Pritsche aufrecht,
steif, erschrockenen Blickes vor sich hinstarrend.
„Mutter, ein Blitz!" sagte er mit leiser, ab-
gebrochener Stimme, „so roth und furchtbar
wie ein Drachen. Er fiel mir auf die Brust...
so schrecklich . . . roth . .. Mutter . .."

„Ach was, mein Sohn", sagte sie, seine
glühenden Wangen liebkosend, „Träume sind
Schäume, mache Dir nichts daraus, mein Sohn."
Und sie setzte sich neben ihn, seinen Kopf liebe-
voll an ihre Brust drückend.

Martin beruhigte sich und ließ den Kopf
aufs Knie sinken. „Geh' nur, Mutter, geh'",
sagte er, „ich werde schon wieder einschlafen."
Er konnte aber nicht schlafen. Die weit auf-
gerissenen Augen auf die im Osten erlöschenden
Sterne heftend, lag er auf der Pritsche.

Die Mutter richtete wiederholt ihre Blicke zu
ihm hinüber. „Aber mein Sohn, warum schläfst
Du nicht?" fragte sie. „Ich kann nicht, Mutter",
antwortete er mit leiser, wehklagender Stimme.

Sie setzte sich zu ihm ans Lager. „Sorge
Dich nicht, mein Sohn", sagte sie, „ein Donner
bedeutet Hochzeit, wenn ein Bursche oder ein
Mädel von ihm träumt. So ist's, ich habe
doch ein Traumbuch, und so muß ich es wissen."

Sie sagte das mit einem Lächeln, das heiter
schien, fuhr mit ihrer mageren Hand über seine
Stirne und streichelte ihm das Haar, bis Martin
selbst Muth faßte und gleichfalls lächelte.

„Mutter, Du sagst also Hochzeit?" fragte er.

„Natürlich nichts Anderes. Und obendrein
eine lustige, fröhliche Hochzeit. Steh' auf, mein
Sohn, steh' auf! Ich werde Dir das Frühstück
Herrichten und nach dem Essen werden Dir die
schwarzen Gedanken verschwinden."

Und so war es auch. Diesen Morgen war
es sogar noch heiterer als sonst in der Stube,
denn da Martin noch Zeit hatte, pfiff er mit
der Amsel ein Lied ums andere, bis das Vög-
lein ganz heiser ward und schließlich nur noch
wehmüthige Töne hervorbrachte. Martin und
die Mutter lächelten und in bester Laune trenn-
ten sich die Beiden.

Sie lief zum Fenster, um dem Sohne nachzu-
schauen. Er schritt leicht, eilig, mit aufrechtem
Kopfe dahin, und als er das Fabrikthorzu passiren

hatte, schaute er
grüßend in die
Höhe zum Fen-
sterchen hinauf.

Nach einer
Weile quoll aus
derFabrikeffeein
dichter,schwarzer
Rauch.

Die Stunden
verstrichen. In
dem sauber ge-
scheuerten Stüb-
chen wurde es
still; die alte
Uhr mit einer
grellen Rose auf
dem vergilbten
Zifferblatte tickte
schläfrig an der
Wand, die Am-
sel versuchte lu-
stige Weisen an-
zuschlagen und
kämpfte possir-
lich gegen ihre
heisere Stimme
an, und die
Witwe, vielleicht
an den Traum
ihres Sohnes
und die Hochzeit,
die derselbe be-
deutete, denkend,
musterte ihren
Sonntagsstaat.

Plötzlich er-
dröhnte ein gar
furchtbares Kra-
chen. Die Wände
erbebten, der Ka-
min wackelte und
das Feusterchen
fiel geräuschvoll
aus derEinrahm
ung. Eine große
funkensprühende
Rauchsäule lohte
empor, unter-
mengt mit Trüm-
mern des einstür-
zenden Fabrikschlotcs, daß das Stübchen in
einen grellen Feuerschein getaucht wurde. Die
Witwe erstarrte zur Bildsäule. Ihre ersterben-
den Lippen gaben keinen Laut von sich.

Eine Kesselexplosion hatte stattgefunden uud
dabei war auch ihr Sohn ums Leben gekommen.

Noch viele Jahre saß die Witwe an dem-
selben Feusterchen, vergrämten und trüben
Blickes auf den wieder errichteten Fabrikschlot
schauend, dem blaue Rauchsäulen entstiegen.

Dieser Rauch nahm aber nicht mehr die
früheren zahllosen Formen an, sondern ver-
wandelte sich immer in die nebelhafte Gestalt
ihres theuren Sohnes. Daun schnellte sie in
die Höhe und breitete ihre zitternden mageren
Arme aus. Aber der Wind verwehte die Nebel-
gestalt und entführte sie in den- Aether. . . .
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