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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 16.1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.8255#0187
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3085

Schrecken. Vergebens suchte Kossnth die durch
Schuld der Führer erstickte revolutionäre Stim-
mung der Nation wieder durch allerlei schein-
revolutionäre Maßregeln zu erwecken: die An-
ordnung eines allgemeinen Bet-, Buß- und Fast-
tags, die Aufforderung zu einem religiösen Kreuz-
zuge gegen die Russen, der Befehl, durch Verwüstung
des eigenen Landes den Vormarsch der Feinde zu
hemmen, wirkten um so ernüchternder und ver-
stimmender, je sicherer man schon des dauernden
Erfolges gewesen war. Was wirklich zu er-
reichen gewesen wäre, das Aufgebot und die Or-
ganisation des allgemeinen Landsturms, wurde
wieder durch die heillose Verwirrung vereitelt, die
im Schoße der Militär- und Zivilverwaltung
herrschte.

Die österreichisch-russische Gegenrevolution ver-
stand sich besser auf ihren Vortheil. Sie verab-
redete ihren Feldzugsplan dahin, daß ein russi-
sches Heer unter dem Oberbefehl des Feldmarschalls
Paskiewitsch über die Karpathen eindringen, wäh-
rend sich die Oesterreicher unter dem Befehl des
Fcldzeugmcisters Haynau non Preßburg über
Raab auf Pesth vorschieben sollten. Haynau
war ein Bastard des Kurfürsten von Hessen, ein
geschickter Soldat, aber ein moralisches Scheusal.
In Italien hatte er sich als ein ehr- und scham-
loser Wütherich erwiesen, und nun marschirte er
gegen die ungarische Revolution, mit unbeschränkten
Vollmachten und bluttriefenden Proklamationen,
in denen jedes Wort ein Henkerbeil und jeder
Satz ein Galgen ivar. Aber er war der Mann,
zu halten, was er verhieß.

* *

*

Mitte Juni begannen die Feindseligkeiten von
Neuem. Görgei suchte von dem festen Stütz-
punkte Komorn aus das Vordringen der Oester-
reicher aufzuhalten; er lieferte ihnen eine Reihe
von Gefechten und Schlachten, jedoch nicht mit
seinem früher bewährten Geschick und mit dem
schließlichen Erfolge, daß die österreichischen
Truppen am 28. Juni Raab besetzten. Nun mel-
dete Görgei der Regierung, die Straße von Raab
nach Pesth sei nicht mehr zu halten, die Haupt-
stadt sei keinen Tag mehr sicher, die Regierung
möge sich an die Theiß zurückziehcn. Er über-
trieb die Gefahr, um sich jeder lästigen Aufsicht
zu entziehen; er begann jetzt seine Karten anszu-
decken und offen nach der Diktatur zu streben;
bei seiner politischen Schwachköpfigkeit bildete er
sich ein, dann glücklich mit den Feinden, nament-
lich mit den Russen verhandeln zu können.

Die Regierung ihrerseits entschloß sich, noch
einmal zu versuchen, was im vorigen Winter ge-
lungen war: nänllich den Krieg zu verschleppen,
die ungarischen Streitkräftc an der Theiß zu-
sammenzuziehen und den günstigen Augenblick
abzuwarten, wo ihnen wieder ein Vordringen
möglich sein würde. So gering auch die Aus-
sichten des Gelingens sein mochten, es mar immer-
hin die verständigste Kriegführung, die noch übrig
blieb. Längst erbittert über Görgeis Eigenmächtig-
keiten, suchte die Regierung ihn seiner Aemter zu
entheben, als er sich ihrem Plan durch seine tak-
tischen Manöver widersetzte. Allein damit stieß
sie auf den Widerstand der Donauarmee, die
Görgei so oft zum Siege geführt hatte; sie mußte
sich darein fügen, ihm den Befehl über dies Heer
zu lassen, während er auf das Kriegsministerium
und den Oberbefehl über alle ungarischen Streit-
kräfte verzichtete. Es blieb ihin aber auch so noch
allzu reiche Gelegenheit, feinen bösen Willen zu
bekunden; durch zwecklose Hin- und Herzüge ver-
stand er, die Vereinigung seines Heeres mit den
anderen Truppen zu hindern, die von der Re-
gierung an der Theiß zusannnengezogen wurden.

Gegenüber diesem Durcheinander im Lager
der ungarischen Revolution hatten ihre Gegner
verhältnißmäßig leichtes Spiel, trotz der Tapfer-
keit, womit die ungarischen Truppen kämpften.
Nach einer Reihe kleinerer Niederlagen wurde die
Theißarmee am 9. August bei Temesoar entschei-
dend aufs Haupt geschlagen. 50000 Ungarn mit
120 Geschützen, unter Bems wie immer kluger
und tapferer Führung, erlagen der Uebermacht
von 70000 Oesterreichern und Russen mit 150 Ka-
nonen. Nun war Görgei endlich an sein Ziel
gelangt, wenn auch erst nachdem es werthlos ge-
worden war. Die einzige Macht der Nation be-
fand sich in seinen Händen, und Niemand konnte
ihm die Diktatur mehr streitig machen, aber er
selbst konnte mit der Diktatur auch nicht mehr
anfangen, als sich den Feinden auf Gnade und
Ungnade zu überliefern.

In Arad, wohin die Regierung geflüchtet war,
erließ Kossuth am 11. August eine Proklamation,
worin er dem General Arthur Görgei die „oberste
Zivil- und Militärgewalt" übertrug und ihn „vor
Gott, der Nation und der Geschichte" dafür ver-
antwortlich inachte, daß er diese Gewalt nach
seiner besten Kraft zur Rettung der nationalen
und sittlichen Selbständigkeit des Vaterlandes ver-
wenden werde. Freilich darf nicht übersehen wer-
den, daß Kossuth in derselben Proklamation den
erfolgreichen Kampf der Selbstvertheidigung gegen
die große Uebermacht der vereinigten Oesterreicher
und Russen für unmöglich erklärte, und daß die
Proklamation, womit Görgei die Diktatur über-
nahin, in ganz unverhüllter Weise von der Fort-
setzung des Kampfes abrieth. Es mar keine Uebcr-
raschung im Sinne eines heimlichen Verraths,
daß Görgci noch am selben Tage mit dein russi-
schen General Rüdiger anknüpfte, ihm die un-
bedingte Waffcnstreckung seiner Truppen anbot
und nur verlangte, daß die Russen ihn von den
Oesterreichern abschneiden sollten, an die er sich
unter keinen Bedingungen ergeben werde.

Demgemäß streckten am 13. August Nach-
mittags ans der Ebene bei Vilagos 23000 Mann
vor den Russen die Waffen, unter ihnen 11 Gene-
rale und 1400 Offiziere, außerdem erbeuteten die
Russen 129 Geschütze, 29 Fahnen und 31 Stan-
darten als Trophäen. Trinmphirend ineldete
Paskiewitsch dem Zaren: „Ungarn liegt zu den
Füßen Ew. Majestät." Görgei erhielt von denr
russischen Fcldmarschall die nöthigen Reisemittel,
um sich als „Jnternirter" nach Klagenfurt zu
begeben; die anderen Offiziere und Mannschaften
wurden sofort dem Henker Haynau ausgeliefert.

Mag nun aber auch Görgci kein Verräthcr
im groben Sinne des Wortes gewesen sein und
nrag auch Kossuth in mancher Beziehung nicht
weniger verschuldet haben, als er, so hatte es
doch seinen guten Sinn, daß die ungarische Nation
bis zu Kossuths vor wenigen Jahren erfolgtem
Tode ihn stets in Ehren gehalten, aber dem noch
lebenden Görgei niemals verziehen hat. Soweit
einzelne Personen den Untergang der ungarischen
Revolution verschuldet haben, trägt Görgei die
entscheidende und hauptsächliche Schuld. Es mag
richtig sein, wenn er die Kapitulation von Vilagos
den „erschütternd wahren Ausdruck der Situation"
genannt hat, aber diese Situation hatte er durch
seinen persönlichen Ehrgeiz und seine politische
Kurzsichtigkeit in erster Reihe verschuldet, und sie
bei Vilagos selbst noch zu Ungunsten der Nation
dadurch beträchtlich verschärft, daß er sich darauf
kaprizirte, nur vor den Russen zu kapituliren.
Die von ihm gehegte und in seinem Heere ge-
nährte Illusion, daß der Zar sich bei Oesterreich
für die ungarische Unabhängigkeit verwenden werde,
war einfach kindisch, und wenn es seine eitle Laune
befriedigen mochte, die verhaßten Oesterrcicher vor

den Russen zu deniüthigen, so hat eine Reihe seiner
tapfersten Waffengefährten dafür am Galgen büßen
müssen.

Zunächst mußte sich der österreichische Rache-
durst gedulden. Wenn sich auch die kleineren
ungarischen Truppenabtheilungen, die cs noch im
Lande gab, nach der Kapitulation von Vilagos
bald ergaben, so behauptete sich doch Klapka vor-
läufig in dem uneinnehmbaren Komorn. Er hielt
die Fahne der ungarischen Revolution noch lange
Wochen aufrecht, unter tapferer Verthcidigung und
glücklichen Ausfällen; erst am 2. Oktober kapitn-
lirte er, nachdem er seinen Mannschaften freien
Abzug erstritten hatte.

Run aber hielt nichts mehr die Hyäne Haynau
zurück, sich ans ihre wehrlosen Opfer zu stürzen.
Am 6. Oktober, dem Todestage Latours, sollte der
ehemalige Ministerpräsident Batthyany, den nicht
einmal int Sinne des mörderischen Kriegsrechts
der Schein einer Schuld traf, am Galgen sterben;
nur ein Selbstmordversuch, durch den er sich in
der Nacht vor der Hinrichtung schwer verwundete,
war die nothgedrungene Ursache, daß er zu Pulver
und Blei „begnadigt" wurde. An demselben Tage
wurden in Arad dreizehn hohe Offiziere hinge-
schlachtet, neun am Galgen und vier durch die
Kugeln des Standrechts; sie hatten sich in Vilagos
mit Görgei ergeben, der allein von den gefangenen
Häuptern der Revolution der Kugel und dem
Strange entging. In ganz Ungarn regneten noch
jahrelang harte Strafurtheile und Güterkonfis-
kationen; auch seiner viehischen Lieblingsneigung,
ehrbare Frauen peitschen zu lassen, fröhntc Hayna»
nunmehr in Ungarn, wie ehedem in Italien; über
50 000 Landeskinder wurden in das österreichische
Heer untergesteckt. In völliger Wehrlosigkeit wurde
das schöne Land gründlicher als je von der Wiener
Kamarilla bis auf die Knochen geplündert.

Mit dem Falle der ungarischen Revolution
endete die europäische Revolution, die im Februar
1848 ihren Weltgang angetreten hatte. In andert-
halb Jahren voll der gewaltigsten Ereignisse hatte
sich eine Umwälzung vollzogen, die durch die
brutalsten Mittel der Gewaltpolitik nicht mehr
rückgängig gemacht werden konnte. Ihre heil-
samen Folgen haben sich von Jahrzehnt zu Jahr-
zehnt weiter erstreckt und werden sich noch tief
in das kommende Jahrhundert erstrecken. Ihre
Kämpfer und ihre Opfer, die einst wie wilde
Thiere um die bewohnte Erde gejagt wurden,
leben heute in dankbarem Gedächtniß Aller, die
der modernen Gesittung vorankämpfen, während
ihre Besieger und Verfolger an den Schandpfahl
der Geschichte genagelt sind, von dem sie weder
das Gebot der Könige noch das Gebet der Priester
mehr befreien kann.

Indem aber das klassenbewußte Proletariat
der Gegenwart der großen Revolutionsjahre 1848
und 1849 gedenkt, schöpft es gleichermaßen aus
ihrem Gelingen wie aus ihrem Mißlingen die
trostreiche Zuversicht, daß es vorwärts geht —
trotz alledein und alledenr. So gewiß sich der
historisch berechtigte Kern der bürgerlichen Revo-
lution durchgesctzt hat und sich durchzusetzcn fort-
fährt, so gewiß wird die proletarische Revolution
mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärtsschreiten.
Aber sie ist frei und wird frei bleiben von den
jähen Schicksalswechseln der bürgerlichen Revo-
lution, deren letzter Grund darin lag, daß diese
Revolution immer nur eine halbe Revolution
sein konnte. In diesem ernsten und tiefen Sinne
hat die Arbeiterklasse sich der revolutionären Zeit
vor fünfzig Jahrcir erinnert.
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