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Haust Du meinen Juden —
hau' ich Deinen Juden!
ergründen. Niemand kann's verstehen. Kein
Mensch ist im Stande, es zu erfassen und zu
erklären — nur sie selbst mögen es von ein-
ander wissen, wie viel Seelenpein dazu nöthig
ist, bis ein Mensch die Todesfurcht nieder-
gerungen hat und sich losreißt von dem Leben.
Und die Menschen haben sich dennoch daran
gewöhnt, daß sich an jedem Tag ein Mensch
ermordet. — Die Zeitungen sind gewöhnt, auch
zwei auf einmal unter den „Kleinen Nachrich-
ten" zn bringen, und das Publikum hat sich
daran gewöhnt, die „Kleinen Nachrichten" gar
nicht zu lesen, wenn sich nicht wenigstens der
Mann sammt seinem Weibe und seinen vier
Kindern ermordet. Sonst fällt es gar nicht mehr
ans. — Nur, wem noch etwas von des ersten
Menschen Seele innewohnt, nur dem bricht
das Herz ob solcher Nachricht, nur der kreischt
in seinem Schmerze darüber auf, was für
eine elende Welt es ist, ans der die Menschen
flüchten müssen; was für Welt es ist, in der
die Menschen schon so sehr gegen das Schau-
derhafte abgestumpft sind, daß sie es gar nicht
bemerken, trotzdem es sie immerfort umgiebt.
Es darben die Arbeiter und die Tagelöhner
und gewinnen zähneknirschend, mit dem blutigen
Schweiße ihres Angesichts, den täglichen Kuchen
für ihre Herren.
Der Arbeiter einer großen Fabrik ging dieser
Tage vor das Gericht. Er klagte gegen den
Unternehmer, für den er dreißig Jahre hin-
durch in einemfort gearbeitet hatte, daß er ihn
jetzt erhalte, da er arbeitsunfähig geworden sei.
Das Gericht sprach das Urtheil ganz gesetz-
mäßig : „Der Fabrikbesitzer ist dem Manne nichts
schuldig, denn nicht aus seinem Verschulden
ist der Arbeiter arbeitsunfähig geworden."
Nach einem in ernster Arbeit verbrachten
Leben soll der Mann jetzt betteln gehen.
Er hat in harter Arbeit das Leben ver-
säumt, und jetzt, da er arbeitsunfähig ist,
muß er sich beeilen zu sterben.
Auf dem Menschenmarkt ist um Geld alles
zu kaufen. — Für Geld bietet sich dir der
Tagelöhner, der gelernte Arbeiter, der Hand-
werker, der Arzt, der Advokat, der Dichter,
der Künstler und der Gelehrte an; für Geld
ist auch die Liebe käuflich.
Alles bekommt man für Geld, aber am
billigsten sind die Menschen.
Und die Menschen bemerken ihre eigene
Schmach nicht, in ihren abgestumpften Seelen
hat die Gewohnheit das Gefühl ertödtet.
Die Menschen stehen im Kriege miteinander,
ein Jeder mit einem Jeden. Krüppelhafte
Bettler, bewaffnete Soldaten, verzweifelte
Selbstmörder, irrsinnige Mörder bringt diese
Gesellschaft hervor. Die eine Hälfte der
Menschheit lebt davon, daß sie die andere
Hälfte beraubt, bestiehlt, betrügt und erschlägt.
Glanz und Dunkel, Reichthnm und Elend,
Prunk und Verzweiflung wechseln miteinander
ab, und dieses verrückte, schmutzige, blutige
Durcheinander heißt: Die bestehende Ge-
sellschaftsordnu ng!
Die neue Lorelei. *s-
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß so nervös ich bin;
Lin Märchen von kritischen Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Zinn.
Die Lurse sind faul; und man munkelt
von blutigem Wetterschein.
Das Ltaatsschiff schaukelt und schunkelt
Ins Dunkel der Zukunft hinein.
Line seltsame Dame sitzet
Auf steiler Selsenwand,
Viel goldnes Geschmeide blitzet
In ihrer blutigen tzand.
Sie hält es lockender Meise
Und singt ein Lied dabei.
Das hat eine brünstig-heiße
Verwirrende Melodei.
Den Schiffer im schwanken Schiffe
Lrgreift es mit wachsender Gier;
Lr schaut nicht die Selsenriffe,
Lr schaut hinauf nur zu ihr.
Ich glaube, die Mellen verschlingen
Am Lnde Schiffer und Uahn;
Und das hat die moderne Sirene
„Weltpolitik" gethan.
Hihe.
„Nein, diese Hitze, unerträglich!"
So stöhnt der Herr Kommerzienrath,
Es zeigt das Thermometer täglich
'neu ungewohnten Wärmegrad.
Jetzt muß man Nordlandsreisen machen,
Hier unten hält's kein Mensch mehr aus!
Johann! pack mir mal meine Sachen,
Ich fahre gleich zur Bahn hinaus.
Doch halt, so schnell kann ich nicht gehen,
Ein Rundgang erst durch die Fabrik;
Stets muß man nach dem Rechten sehen
Und „Chef" sein jeden Augenblick.
Gehüllt in der „Havanna"-Wolke
Tritt ein der Herr Kommerzienrath,
Hält Heerschau bei dem Arbeitsvolke
Im eleganten Sommcrstaat.
Da trifft sein Blick der Leute einen,
Der bei der Hitz' ein wenig ruht, —
„Die Kerle mir zu bummeln scheinen,
Ich werd' Euch kommen, faule Brut!
„Vorwärts, geschafft! Ihr sollt 'nml sehen,
Wer faul ist, der fliegt gleich hinaus!
Nein, diese Hitze, — ich muß gehen,
Hier drinnen halt ich's nicht mehr aus." m
weil Lhina das Reich der Mitte ist, hält man
es für den besten Treffpunkt.
Richt alle, die Reden halten, halten, was sie reden.
Lin Untergebener hat nie recht, höchstens einmal
nicht ganz unrecht. *
viele, die wollen alles wissen, ohne zu wissen, was
sie alles wollen. *
Man giebt dem Arbeiter einen Fußtritt und bestraft
ihn, wenn er sich darüber beschwert.
®UtcE ist: der Glauben an dasselbe.
Man betont so gern das Völkerrecht, aber so wenig
das Recht des Volkes.
Haust Du meinen Juden —
hau' ich Deinen Juden!
ergründen. Niemand kann's verstehen. Kein
Mensch ist im Stande, es zu erfassen und zu
erklären — nur sie selbst mögen es von ein-
ander wissen, wie viel Seelenpein dazu nöthig
ist, bis ein Mensch die Todesfurcht nieder-
gerungen hat und sich losreißt von dem Leben.
Und die Menschen haben sich dennoch daran
gewöhnt, daß sich an jedem Tag ein Mensch
ermordet. — Die Zeitungen sind gewöhnt, auch
zwei auf einmal unter den „Kleinen Nachrich-
ten" zn bringen, und das Publikum hat sich
daran gewöhnt, die „Kleinen Nachrichten" gar
nicht zu lesen, wenn sich nicht wenigstens der
Mann sammt seinem Weibe und seinen vier
Kindern ermordet. Sonst fällt es gar nicht mehr
ans. — Nur, wem noch etwas von des ersten
Menschen Seele innewohnt, nur dem bricht
das Herz ob solcher Nachricht, nur der kreischt
in seinem Schmerze darüber auf, was für
eine elende Welt es ist, ans der die Menschen
flüchten müssen; was für Welt es ist, in der
die Menschen schon so sehr gegen das Schau-
derhafte abgestumpft sind, daß sie es gar nicht
bemerken, trotzdem es sie immerfort umgiebt.
Es darben die Arbeiter und die Tagelöhner
und gewinnen zähneknirschend, mit dem blutigen
Schweiße ihres Angesichts, den täglichen Kuchen
für ihre Herren.
Der Arbeiter einer großen Fabrik ging dieser
Tage vor das Gericht. Er klagte gegen den
Unternehmer, für den er dreißig Jahre hin-
durch in einemfort gearbeitet hatte, daß er ihn
jetzt erhalte, da er arbeitsunfähig geworden sei.
Das Gericht sprach das Urtheil ganz gesetz-
mäßig : „Der Fabrikbesitzer ist dem Manne nichts
schuldig, denn nicht aus seinem Verschulden
ist der Arbeiter arbeitsunfähig geworden."
Nach einem in ernster Arbeit verbrachten
Leben soll der Mann jetzt betteln gehen.
Er hat in harter Arbeit das Leben ver-
säumt, und jetzt, da er arbeitsunfähig ist,
muß er sich beeilen zu sterben.
Auf dem Menschenmarkt ist um Geld alles
zu kaufen. — Für Geld bietet sich dir der
Tagelöhner, der gelernte Arbeiter, der Hand-
werker, der Arzt, der Advokat, der Dichter,
der Künstler und der Gelehrte an; für Geld
ist auch die Liebe käuflich.
Alles bekommt man für Geld, aber am
billigsten sind die Menschen.
Und die Menschen bemerken ihre eigene
Schmach nicht, in ihren abgestumpften Seelen
hat die Gewohnheit das Gefühl ertödtet.
Die Menschen stehen im Kriege miteinander,
ein Jeder mit einem Jeden. Krüppelhafte
Bettler, bewaffnete Soldaten, verzweifelte
Selbstmörder, irrsinnige Mörder bringt diese
Gesellschaft hervor. Die eine Hälfte der
Menschheit lebt davon, daß sie die andere
Hälfte beraubt, bestiehlt, betrügt und erschlägt.
Glanz und Dunkel, Reichthnm und Elend,
Prunk und Verzweiflung wechseln miteinander
ab, und dieses verrückte, schmutzige, blutige
Durcheinander heißt: Die bestehende Ge-
sellschaftsordnu ng!
Die neue Lorelei. *s-
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß so nervös ich bin;
Lin Märchen von kritischen Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Zinn.
Die Lurse sind faul; und man munkelt
von blutigem Wetterschein.
Das Ltaatsschiff schaukelt und schunkelt
Ins Dunkel der Zukunft hinein.
Line seltsame Dame sitzet
Auf steiler Selsenwand,
Viel goldnes Geschmeide blitzet
In ihrer blutigen tzand.
Sie hält es lockender Meise
Und singt ein Lied dabei.
Das hat eine brünstig-heiße
Verwirrende Melodei.
Den Schiffer im schwanken Schiffe
Lrgreift es mit wachsender Gier;
Lr schaut nicht die Selsenriffe,
Lr schaut hinauf nur zu ihr.
Ich glaube, die Mellen verschlingen
Am Lnde Schiffer und Uahn;
Und das hat die moderne Sirene
„Weltpolitik" gethan.
Hihe.
„Nein, diese Hitze, unerträglich!"
So stöhnt der Herr Kommerzienrath,
Es zeigt das Thermometer täglich
'neu ungewohnten Wärmegrad.
Jetzt muß man Nordlandsreisen machen,
Hier unten hält's kein Mensch mehr aus!
Johann! pack mir mal meine Sachen,
Ich fahre gleich zur Bahn hinaus.
Doch halt, so schnell kann ich nicht gehen,
Ein Rundgang erst durch die Fabrik;
Stets muß man nach dem Rechten sehen
Und „Chef" sein jeden Augenblick.
Gehüllt in der „Havanna"-Wolke
Tritt ein der Herr Kommerzienrath,
Hält Heerschau bei dem Arbeitsvolke
Im eleganten Sommcrstaat.
Da trifft sein Blick der Leute einen,
Der bei der Hitz' ein wenig ruht, —
„Die Kerle mir zu bummeln scheinen,
Ich werd' Euch kommen, faule Brut!
„Vorwärts, geschafft! Ihr sollt 'nml sehen,
Wer faul ist, der fliegt gleich hinaus!
Nein, diese Hitze, — ich muß gehen,
Hier drinnen halt ich's nicht mehr aus." m
weil Lhina das Reich der Mitte ist, hält man
es für den besten Treffpunkt.
Richt alle, die Reden halten, halten, was sie reden.
Lin Untergebener hat nie recht, höchstens einmal
nicht ganz unrecht. *
viele, die wollen alles wissen, ohne zu wissen, was
sie alles wollen. *
Man giebt dem Arbeiter einen Fußtritt und bestraft
ihn, wenn er sich darüber beschwert.
®UtcE ist: der Glauben an dasselbe.
Man betont so gern das Völkerrecht, aber so wenig
das Recht des Volkes.