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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 18.1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.6609#0049
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• 3448

Groschen für Abendbrot und Nachtherberge
blieben ihm noch! Und wenn der Wirth zwanzig
Mal beschwor, er habe nichts von dem Uhren-
kauf gesehn, deshalb war es doch wahr, er
hatte das alte Ding treu und redlich bezahlt!

Der kleine schmächtige Mensch schlug stch
mit der Faust vor die Stirn.

. .. Warum hatte er denn blos diese ver-
dammte Uhr haben wollen?! So ein Dreck-
dings! Um solche Lappalie muß er nun ins
Zuchthaus!... lebenslänglich!

Der Unglückliche schluchzte laut auf.

„Die Uhr! Die verfluchte Uhr!" sagte er
weinend, „darum werde ich doch keinen Menschen
ermorden! Und dann, wo ist denn das Porte-
monnaie? Das müßt' ich denn doch auch ge-
habt haben . . . Das Geld soll ich versteckt
haben! Wo denn? Solche Niederträchtigkeit!
So 'ne verdammte Gemeinheit!"

Der Gefangene schrie die letzten Worte laut
hinaus. Draußen auf dem Gange ging der
Aufseher an seiner Zelle vorbei, klopfte mit
dem Schlüssel an die eisenbeschlagene Thür
und ermahnte zur Ruhe.

Müller setzte sich auf den kleinen dreibeinigen
Schemel und dachte unablässig nach. Aber
jetzt fügten sich die Bilder der Erinnerung
nicht mehr so schnell und glatt ineinander, denn
zwischenhinein drängte sich immer wieder die
entsetzliche Aussicht auf ein langes, langes
Leben im Zuchthaus, das auch im Zuchthaus
enden sollte.

. . . Wie lustig waren sie gewesen, als sie
an dem schönen Nachmittag dahin wanderten!
Der Bäcker, der eine hübsche Stimme hatte,
fing an zu singen und er krähte mit, so gut
es gehen wollte.

Dann waren sie einer Frau begegnet, einer schon
älteren Person, die sehr unordentlich aussah.

Der Bäcker hatte sie gestellt und ein Ge-
spräch mit ihr angefangen. Schließlich wollte
er sie ein Stück Wegs begleiten. Müller wollte
nicht wieder mit zurück und so trennten sie sich.

Der Staatsanwalt behauptete, man habe
nichts unversucht gelassen, um die Person aus-
findig zu machen, aber vergeblich! Zweifellos
handle es sich hier einmal wieder um die große
Unbekannte, die ja in allen derartigen Prozessen
eine Rolle spiele.

Der Gefangene lachte gequält auf.

Er sah sie ja doch so deutlich vor sich, diese
große, dicke Herumtreiberin in ihrem schmutzigen
grünen Rock und dem braunen Umschlagetnch,
an dem die Fusseln herunterhingen.

Sie hatten sich gewiß so gut wie gar keine
Mühe gegeben, das Weibsbild aufzufinden!
Ach, wenn er nur jetzt draußen wäre, er würde
sie suchen und, wenn er um die ganze Erde
herum laufen müßte!

Uud später die Konfrontation! Sie hatten
ihn gefesselt in das Leichenschauhaus geschleppt.
Da lag der Claus Rippler mit eingeschlagenem
Schädel, er sah schrecklich aus . . . ihm graute
davor . . . natürlich! Auch das wurde ihm als
Schuldbewußtsein ausgelegt.

Und dann seine „Verbrecherphysiognomie!"
wie der Staatsanwalt sich ausdrückte. War
er denn schuld daran, daß er so hervorstehende
Backenknochen, so kleine graugrüne Augen und
solche häßliche, platte Nase hatte?

Alles hatte sich gegen ihn verschworen und
seine dämliche Visage that das Uebrige, um
die Geschworenen zu bestimmen, ihn schuldig
zu sprechen . . .

Sollte er wirklich sein Leben lang im Zucht-
haus sitzen?

Oder sollte er vielleicht warten, bis Jemand
so freundlich wäre, stch für ihn zu verwenden...
hahaha!

Der Gefangene schüttelte heftig den Kopf.
Dann ging er mit stürmischen Schritten in der
Zelle auf und nieder.

Plötzlich blieb er stehen.

... Nein, er wollte nicht! Lieber todt, als
eingesperrt für immer. . .

Er betrachtete aufmerksam die Gegenstände
in der Zelle. An dem eisernen Fensterriegel
blieb sein Auge, in dem es jetzt so seltsam
leuchtete, hängen.

„Es ist doch fast unglaublich, lieber In-
spektor, da, schau'n Sie 'mal her!"

Mit diesen Worten trat der Direktor der Ge-
fangenenanstalt in das Zimmer des Inspektors
und zeigte diesem ein soeben angelangtes
Schreiben der Königlichen Staatsanwaltschaft.

Der Inspektor sah starr, mit offenem Munde
auf das Papier.

„Was, der ist unschuldig?"

Der Direktor nickte. „Ein Landgensdarm hat
die Frau aufgegriffen, von der der Müller so
viel gesprochen hat. Der Gensdarm findet ein
Beutelportemonnaie bei ihr und erinnert sich
dabei an die Mordgeschichte. Er sagt dem
Frauenzimmer die That auf den Kopf zu und
die gesteht heulend ein, daß sie dem Bäcker-
gesellen, während er schlief, mit einem spitzen
Stein den Schädel eingeschlagen hat. . . Aber
nun muß ich vor allen Dingen dem armen
Jungen, dem Müller, die Freudenbotschaft
bringen, Sie kommen doch mit, nicht wahr?"

Als die beiden Männer die Zelle des
Schneiders betraten, füllte bereits ein graues
Dämmerlicht den kleinen Raum. Der zu lebens-
länglichem Zuchthaus verurtheilte Gefangene
hing todt am Fensterriegel.

Aach unten treten, von oben getreten werden: Das
ist die Freiheit im Militärstaat!

Warum sprechen gerade Diejenigen vom „Licht der
Wahrheit", die so ängstlich bemüht sind, die Unwissen-
heit und Geistesnacht um sich zu erhalten.

Wenn ein Gesetz so dumm und ungerecht ist, daß es
kein Mensch mehr achten kann, so hält man es noch wegen
seines hohen Alters eine Zeitlang aufrecht. Denn diese
ältesten Gesetze sind im Lampfe gegen die Freiheit und
den Fortschritt die brauchbarsten.

Die größten Unechtseelen sind auch die ärgsten Unter-
drücker.

Bei allem Nepotismus bringen ste es doch nicht dazu,
jedem Lagedieb ein einträgliches Amt zu verschaffen.

Wann ist die Gerechtigkeit am blindesten? wenn
es gilt, einen Sozialdemokraten zu verurtheilen.

Das Volk, von dem die Fürsten sprechen, wenn ste
behaupten, es zu lieben, ist ein Volk von Speichelleckern.
Das wahre Volk liebt kein Fürst, denn er kennt es nicht.

Wie bei einem Regen die giftigen Pilze, so schießen
bei einem Grdensregen dis Spitzbuben in die tzöhe.

Die Wissenschaft ändert stch von Lag zu Lag, ein
Volk ändert sich von Zahr zu Jahr und die Gesetze andern
sich kaum von Jahrhundert zu Jahrhundert. Soll das
der gepriesene Sinn der Weltordnung sein?

Um die Schändlichkeit ihrer Mittel zu entschuldigen,
sagen sie oft, der Zweck heiligt die Mittel. Aber es ist
immer noch die Frage, ob nicht ihr Zweck oft auch ebenso
schändlich ist, wie ihre Mittel.
 
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