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Der Landgerichtsdirektor von Fehrendahl
saß im Speisezimmer beim Frühstück und las
den Lokalanzeiger, als ihm die Post gebracht
wurde. Er sortierte als peinlich gewissen-
hafter Mensch zuerst die Schreiben nach den
Adressen, Da waren zwei Briefe an seine
Gattin, die er sofort rücksichtsvoll bei Seite
legte. Dann ein Brief an seinen Sohn, wel-
cher über die Pfingstfeiertage verreist war,
und dieser Brief hatte —
das wunderte den Land-
gerichtsdirektor sehr —
eine ganze Anzahl von
Adressen, die der alte
Herr nicht kannte. Nun,
wiewohl er das nur sehr
ungern annahm, der liebe
Willy schien demnach
noch etwelche Extrawoh-
nungen, eine nach der
anderen natürlich, ge-
habt zu haben. . . .

Der Brief war von
einer Frauenhand. Je-
denfalls war es besser,
ihn an sich zu nehmen
. . . seine Frau brauchte
ihn nicht sehen. Aber die
schlief ja auch noch und
stand vorläufig nicht auf.

Herr von Fehrendahl
seufzte. Ein richtiger
Zusammenhalt war in
seinem Hause eigentlich
nie gewesen. Deshalb
war wohl auch der Willy
so ein Lüdrian, der
seine Zerstreuungen stets
außerhalb der Familie
suchte. Sonst ' war er
übrigens tüchtig, der
Junge, hervorragend
tüchtig als Jurist, und
jetzt, wo er seit kurzem
Assessor war und schon
ein paarmal mit vielem
Glück als Staatsanwalt
plädiert hatte, schien
seine Karriere gesichert.

Aber der Brief! Mit
einem peinlichen Gefühl
griff der alte Herr in die
Brusttasche und zog das
Kuvert hervor. Hand-
schrift und Papier sahen
nicht so aus, als sei die
Absenderin eine Dame
aus den ersten Ständen. Nebenbei war der
Brief vom 28. Februar abgestempelt, und
heute schrieb man den 21. Mai. Während-
dem hatte er vier Adressen passiert und die
Post hatte ihn zuletzt an die des leicht auf-
findbaren Vaters gelangen lassen. Also
im Laufe von drei Monaten vier verschie-
dene Adressen! War das mit einer bloßen
Unzufriedenheit hinsichtlich des Domizils zu
erklären?!

Das methodisch arbeitende Gehirn des lang-
jährigen Untersuchungsrichters zog seine
Schlüsse. Wer wechselt so oft seine Woh-
nungen? Offenbar doch nur jemand, der sich
verfolgt glaubt oder der in der Tat verfolgt
wird. Aber sein Sohn, sein Willy, verfolgt?
Der Landgerichtsdirektor schüttelte seinen Kopf,
der, oben wie eine Elfenbeinkugel poliert, mit
der markanten Stirnsorm und dem weißen

-—. 4884 . -

Der Vrief.

Don Hans Ä>yan.

Patriarchenbart stets einen so wirksamen Mittel-
punkt für das Kollegium abgab.

Er trank seinen Kaffee schnell, denn der
Regulator schlug eben halb neun, ließ sich
von dem Stubenmädchen die Sachen und den
Paletot bringen und schritt mit einem „Danke!"
und einem freundlichen Blick auf das hübsche
blonde Geschöpf zur Tür. Im Hinausgehen
wandte er sich noch um und sagte: „Grüßen

vie UtlmUDv aus üer ManüMurel.

Sie meine Frau, bitte, und sagen Sie ihr,
ich würde kaum zum Diner da sein. Es kann
heute spät werden."

Auf dem Wege nach dem Kriminalgericht,
der nicht weit war und den der Richter stets
zu Fuß machte, mußte er immer wieder an
den dummen Brief denken. Doch als er ein-
mal das Gerichtsgebäude betreten hatte, nahm
ihn, der ein sehr eifriger Jurist war, seine
Tätigkeit und das Interesse für den „Fall",
der zuerst vorlag, so gefangen, daß alles an-
dere in seinem Empfinden zurücktrat.

Um elf Uhr hatte er schon einen Einbrecher
verurteilt und einen Heiratsschwindler für ein
Jahr unschädlich gemacht. Jetzt wollte er
eben an eine große Vetrügersache, die sehr
interessant zu werden versprach und wo er

einen der geriebensten Rechtsanwälte von ganz
Berlin gegen sich hatte, Herangehen — denn
von Fehrendahl konnte seine Richter- und be-
sonders seine Staatsanwaltsperiode nie ganz
vergessen und empfand auch als Vorsitzender
des Gerichts den Anwalt des Beklagten stets
als seinen Gegner —, da kam aus dem Unter-
suchungsgefängnis die Nachricht, der be-
treffende Angeklagte habe sich in der ver-
gangenen Nacht erhängt.

„Schade,schade!" sagte
der Direktor zu einem
der Beisitzer, der wäh-
rend der Verhandlung
stets schlief und dann
später immer für d as h är-
teste Strafmaß stimmte,
„da hätten wir was er-
leben können, lieber Kol-
lege! Zu dumm! Macht
uns dieser Kerl da 'n
Strich durch die Rech-
nung und hängt sich auf!
Förmlich hineingebohrt
habe ich mich in diesen
Wust von Akten! Acht
Tage Arbeit mindestens
— und nun doch alles
umsonst!"

Mit seiner hohen und
nur ganz wenig gebeug-
ten Figur, die Hände
auf dem Rücken, im
Beratungszimmer auf
und ab gehend, schüttelte
Herr von Fehrendahl
seinen imposanten Kopf,
während der „liebe Kol-
lege" sich innerlich freute,
daß er sich selber von
jeder derartigen An-
strengung stets fernge-
halten hatte.

Aber als wollte die
Gerechtigkeit dem Land-
gerichtsdirektor einen
Ersatz bieten, öffnete sich
nach höflichem Klopfen
die Tür, und der Nun-
tius überbrachte Herrn
von Fehrendahl die Auf-
forderung seines Vor-
gesetzten, sich an Stelle
eines als befangen ab-
gelehnten Kollegen einer
Schwurgerichtssache an-
zunehmen. In diesem
Augenblick fiel dem Direktor merkwürdiger-
weise wieder der Brief ein ... aber er scheuchte
den Gedanken daran fort.

Auf dem Wege zum Schwurgerichtssaal
fragte er den Nuntius, einen alten Gefängnis-
beamten, nach dem Grunde der Ablehnung
des anderen Vorsitzenden, wobei sich ebenfalls
schon ein leises Vorurteil gegen den Ange-
klagten in ihm regte, und erfuhr, der Herr
Rechtsanwalt habe den Herrn Vorsitzenden
auf eine Beschwerde seiner Mandantin abge-
lehnt, weil der Herr Vorsitzende noch vor
Beginn der Verhandlung gesagt hätte, die
aufrechte und trotzige Haltung der Angeklagten
sei geeignet, einen wenig vertrauenerwecken-
den Eindruck auf den hohen Gerichtshof zu
machen.

„Das war etwas unvorsichtig!" sagte der
Landgerichtsdirektor mehr zu sich als zu dem



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IndelfriedcmWinne, gesungen von dein dankbaren russischen Volke.
 
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