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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 22.1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.6368#0339
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Die MMge Poft.

Gast: warum tobt denn der russische Spitzel so? — Acllner: Ach, er hat einen wichtigen Bericht „an die russische Regierung"
geschickt und bekommt ihn heute von der Post wegen ungenügender Adresse unbestellt wieder mit der Anfrage: „welche?'

gläubige, wundernde, staunende, frohe Er-
regung geht von ihm aus. . . .

Die Leute in dem Lauschen haben erst nichts
bemerkt, da wird der Schwindsüchtige auf-
merksam, ächzend erhebt er sich, geht ein paar
Schritte abwärts, der letzte Gast folgt seiner-
schwarzen gekrümmten Gestalt mit den funkeln-
den unruhigen Augen.

„Was ist dort? Dort ist etwas! Etwas
Neues! Eine Nachricht! Etwas Wichtiges!
Kommen Sie!"

Anna Iwanowna, mit der Kleinen im Arme,
erkennt schon von weitem den, der herauskommt.
Ihr Gesicht wird hell. „Iwan Iwanitsch!
Geh! Sieh, was dort ist! Er kommt von der
Stadt! Sie kommen alle mit herauf! Es ist
etwas geschehen. Etwas Neues! Etwas Wich-
tiges! Etwas Gewaltiges!

„Nun? Ossip Iakowlewitsch, nun?"

„Nun? Was ist? Ist es-Er? Er?"

Der stolze Graubart mit der hohen weißen
Stirn steht wie ein Apostel unter der gleißen-
den Sonne, in dieser Landschaft, die nichts
Schwarzes kennt, in dieser Gruppe atemlos
gespannter Landes-und Leidensgenossen. Seine
dunkelgewimperten Augen glühen vor Glück
über die Botschaft, die er ihnen mit zwei
Worten gebracht hat, und fieberisch röten sich
seine Wangen.

„Endlich! Endlich! Endlich!" Die lange,
feingesormte Land macht eine blitzschnelle,
seltsam verständliche Bewegung. Mit weit-
geblähten Nüstern, mit zuckendem Munde steht
er da. Lärm erhebt sich, Geschrei. . . .

„Ist es denn wahr? Wirklich und gewiß?
Tot? Beseitigt? Linwcggeräumt? Barm-
herziger Gott!"

„Tot und aus dem Wege! Tot für alle
Ewigkeit!"

Ossip Iakowlewitsch hat eine rollende, weit-
tönende Stimme. Sie klingt wie der Donner
des Gerichts. Da steht er, eine weiße Säule
in der Sonne, »eben dem Philosophen aus
Sibirien, sieht alle der Reihe nach lange und
eindringlich an, sieht über weite Strecken hin-
weg . . . über die zwölf Jahre, da auch er im
sibirischen Eise. . .

„Wie?" wollen sie wissen. „Wie geschah cs?"

Die Frage fährt ihm wie ein aufreizender
Stoß ins Bewußtsein. „Wie? In tausend
Stückchen zerrissen, in zahllose Fragmente
zerbröckelt, im Straßenschmutz zu Brei zer-
mahlen," grollt er ans.

„Gut!" der letzte Ankömmling nickt. „Ge-
rechtigkeit." Bor seinen düster funkelnden
klugen stehen die roten Bilder der letzten
Letze. „Nein", widerruft er, „zu schnell! Ohne
Qual? Ungerechtigkeit!"

„Niemand verunglückt?" bittet der Philo-
soph.

„Leider. Der Kutscher."

„Ach! Schade!" antwortet jeder Mund.

Dann tritt Stille ein. Die wunderbare
Stille der Erlösung von fürchterlichem Druck.
Ein allgemeines ilnglück ist gehoben. Ein
Schreckbild, das alle menschlichen Züge abge-
streift, ist in tausend Stückchen zerrissen, in
zahllose Fragmente zerbröckelt, im Straßen-

schmutz zu Brei zermahlen worden. Einer,
der, solange er lebte, nie jemand Freude be-
reitet hat, heute, an seinem Todestag, hat er
über Millionen Freude gebracht, denn er ist
in tausend Stückchen zerrisse», in zahllose
Fragmente zerbröckelt, im Straßenschmutz zu
Brei zermahlen.

Sein Name wird niemand mehr schrecken.
„Er wird dem Lande nicht mehr schaden."

Die Sonne
scheint, sie leuch-
tetjeden Winkel
aus. Sie scheint
in diese un-
geheure Freude
hinein, so klar,
so wissend, wie
in des kleinen
Kindes Tränen
über das ver-
folgte Mäus-
chen.

Sie alle, die
sich hier freuen,
waren einmal
solche Kinder...
 
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