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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 23.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.6366#0035
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4945 .- - —

schweren Knoten im Nacken, aber sonst >var
alle Schönheit, die dies Gesicht einst besessen
haben mochte, längst dahin. Angst, Sorge, Not
und viele Tränen stritten um den größten Platz
in diesem Angesicht.

„Womit kann ich dienen?"fragte derFabrikant.
Die Frau antwortete nicht, sie weinte nur
leise vor sich hin, ab und zu aufschluchzend
und mit ihrem Tuch über die Augen fahrend.
Etwas ungeduldig wiederholte erseineFrage.
Da sagte sie, mitten im Weinen, nur ein
Wort, ganz leise: „Max! . . ."

Er zuckte zusammen. Aus einer fernen, fernen
Erinnerung klang es herüber zu ihm, aber er
fand sich noch nicht zurecht in jenen lang-
vergessenen Wegen, an denen er einst so manche
Blume gebrochen hatte. . .

Und die Frau weinte und weinte.

„Wer sind Sie denn?" fragte er stockend.
„Anna Birkner", schluchzte sie.

, Da war er so klug wie zuvor. Aber plötz-
lich fiel es ihm ein: von der kleinen Anni
hatte er ja ein Kind gehabt, sogar einen
Zungen! So oft hatte er sich später einen ge-
wünscht ... und damals ... damals hatte sein
Bater die Sache mit tausend Talern ein für alle-
'ual tot gemacht! Und nun war sie wieder da,
a>e Person . . . peinlich! Sehr peinlich!

Wenn nur seine Frau nichts merkte! Neben-
ei wunderte er sich über sich selber, daß er
gar nicht mit dein armen Weibe mitfühlte...

^ ">ar ihm total gleichgültig. Die fort-
a irenden Tränen ärgerten ihn sogar.

»v)ch komme wegen Fritz!" sagte sie, dabei
'' -'»„kleines Kind schluckend.

"~.7a",' dachte er, „das ist der Junge!"
au» '? Pnd doch Geschworener?" Sie sah ihn
(jj ’ j ” geröteten Augen angstvoll an.
wurde blaß cine scheußliche Ahnung. Er

Und die Mutter, von der jammervollen
Angst um ihr Kind und von der Scham wegen
eines solchen Kindes hin und her gerissen,
nickte nur leise und sagte dann, zum erstenmal
ohne Tränen, als sei sie selbst zum Weinen
zu müde, mit matter Stimme:

„Ja, er ist es . . ."

Sie schwiegen beide. Er bewegte nervös
die Lippen, machte hastige, fahrige Bewegungen
und schüttelte den Kopf, als verwürfe er seine
Gedanken wieder, und sagte, während eine
heiße Trockenheit in seiner Kehle würgte, in
abgerissenen Worten:

„Na . . . sage mal . . . wie. . . wie . . . ist
denn das . . . gekommen?!"

Er wollte fester reden, weil er selbst das
Zittern in seiner Stiinme hörte, aber die Angst,
das Entsetzen griff immer stärker herüber aus
dem Mutterherzen in seine Brust hinein, die
voller Grauen war', daß solch ein Mensch
sein Kind sei. . . . Und fern, fernher dämmerte
cs da hinein, in sein Gewissen, wie das Er-
kennen einer eigenen, schweren Verschuldung.
Da flüsterte etwas in ihm und raunte: „Dein
Kind! . . . Dein Sohn! .. . Den du hast ver-
kommen und verderben lassen!"

Und plötzlich riß es die Frau vor ihm da-
nieder: „Laß ihn nicht verurteilen! Laß ihn
wenigstens leben. . ."

„Um, Gottes willen, schrei doch nicht so."
Er hielt ihr die Hand auf den Mund. Und
da fühlte er, wie die erste Träne über seine
Wange rann. Aber er dachte auch an Frau
und Tochter, was sollten denn die denken, wenn
sie die Frau da so schreien hörten!

Die hatte jetzt Worte gefunden: sie sprach
unaufhörlich, mit den tausend Zungen der
Mutter, die ihr Kind erretten will.

. . . Nie hätte sie ihn ausgesucht! Nie! Nie-
mals! Aber jetzt, wo sie keinen Menschen auf

der Welt weiter hätte, als den einen! . . .
Und wenn er sie zehnmal geschlagen hat, der
Fritz! Wen geht denn das was an? Sie
will ja von keinem was haben! Aber er soll
nicht hingerichtet werden! . . . Ins Zuchthaus,
ja . . . ja! . . . Und er wäre schon immer krank
gewesen; kopfkrank! Wenn die Reichen so
was machen, dann heißt's, sie sind verrückt,
aber natürlich, so ’n armer Mensch ...

Und sich immer mehr erzürnend, schrie sie
wieder: „Kann ich denn dafür, daß er so ge-
worden ist . . .? Wenn mir keiner hilft!"

Max Edenweiler wußte nachher gar nicht,
wie er die Frau, die einst seine Geliebte ge-
wesen, und die jetzt für ihren Sohn bat, der
ein Mörder war, hinausgebracht hatte. Ohne
von seiner Frau und seiner Tochter Abschied
zu nehmen, fuhr er aufs Gericht.

Die Beratung im Geschworenenzimnier hatte
gar nicht lange gedauert. Die Stimmenanzahl
für und gegen den Schuldspruch war gleich,
so gab der Obmann, Herr Max Edenweiler,
mit seiner Stiinme den Ausschlag.

Sich mit dem Taschentuch die hellen Tropfen
von der Stirne wischend, schritt er voran in
den Gerichtssaal. Das Gericht trat ein. Der
Obmann erhob sich:

„Ist der Angeklagte Fritz Birkner des Mor-
des an der Trödlersfrau Auguste Stimining
schuldig? — Nein."

Drüben auf der Anklagebank ließ sich ein
Mensch, dem die schweißnassen Haare in die
niedere Stirne fielen, der in der letzten äußersten
Spannung mit seinen Fäusten den Tisch um-
klammert hielt, schwer auf die Bank fallen.
Seine Augen suchten int Zuschauerraum. Da,
da stand die Mutter! . . . Und in das harte,
verwilderte Herz dieses Armseligen kam ein
Hauch von Liebe. . . .
 
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