Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 24.1907

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6549#0121
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
verbot zu gewärtigen sei, was freilich eine
gesetzwidrige Maßnahme gewesen wäre. Ein-
geschüchtert folgte Hartung der ihm gewordenen
Weisung — und Schweichel stand wieder brot-
los auf der Straße.

Da ihm jede journalistische Existenzmöglich-
Esit genommeu war, beschloß er durch Unter-
vichtstätigkeit sein Leben zu fristen. Durch
Vermittlung eines ehemaligen Komilitonen,
ver bereits als Assessor amtierte, gelang es
chm, bei einem Verwandten desselben, einem
Gutsbesitzer im Masurischen, als Hauslehrer
Unterzukommen. Aber nicht lange erfreute er
sich der Ruhe. Eines Tages erhielt er vom
^chulinspektor und Superintendenten des
Kreises eine briefliche Einladung zu einer
Unterredung. Schweichel ging hin und traf
vort einen Schulrat von Gumbinnen. Mäh-
end nun die drei Männer ganz artig dem
"edenzten Weine zusprachen, wurde Schwei-
chel einem harmlos erscheinenden Verhör über
seine Stellung zum Religionsunterricht unter-
zogen. Er sagte: welchen Standpunkt er per-
sönlich einnehme, das wäre ja wohl durch das
volle Freiheit des Denkens und Handelns auch
'n Glaubenssachen gewährende demokratische
Parteiprogramm zur Genüge bekannt. Was
mo Handhabung des Unterrichtes in der
mblischen Geschichte, speziell der befragten
Erzählung von Adam und Eva im Paradiese
vetreffe, so lasse er die Kinder lieber ruhig
gewähren, weil ihnen nach seinem Dafür-
golten das Verständnis für den Sinn und
Zusammenhang der Fabel abgehe. Schweichel
vachte längst nicht mehr an jenen — Pastoren-
U>ein. Wie erstaunte er da, als er plötzlich
von der Regierung, Abteilung für Kirchen-
Und Schulangelegenheiten, in Gumbinnen ein
schreiben erhielt. Darin wurde ihm kurzer-
hand das Recht zur Ausübung der Lehrtätig-
vvit entzogen. Die Behörde fand nämlich, daß
?seine Vergangenheit keine Garantie für seine
-moralität böte" . . .

Wieder griff der gehetzte Dichter zum Wander-
’ ecken: im „freien" Hansastaat Hamburg hoffte
endlich sicher vor Nachstellungen zu sein.
, ^ Hoffnung erwies sich als trügerisch. Denn
°u>n war Schweichel einige Tage da und
^Ng daran, sich wohnlich einzurichten, als er
en Besuch eines Gendarmen erhielt, der seine
?vnze Habe nach verdächtigen Papieren durch-
Rchte und den Dichter mitsamt einem Manu-
jvrptheft Gedichte aufs Polizeiamt verbrachte.
°rt wurde ihm bedeutet, daß er innerhalb
Dagen das Hamburger Gebiet zu ver-
Rsen habe. Die Gründe für die Ausweisung
urden nicht angegeben. Schweichel inter-
nierte beim preußischen Gesandten. Der lehnte
'. vtwas zur Aufhebung des Befehls zu tun,
v>l er, wie er sagte, die Verpflichtung ein-
övgangen sei, sich nicht in die Maßnahmen
hanseatischen Regierung zu mischen. Nach-
e»> der Polizeipräsident Schweichel nochmals
>>en mehrtägigen Aufschub gewährt hatte,
am,t er m Qucjj roerljgften§ die Stadt an-
»siehen habe, bevor er sie verlasse, begab sich
r;5er' gutem Rate folgend, über den Thü-
6or Wald nach der Schweiz.

In Lausanne errang er sich als Privat-
lehrer, dann als Professor der deutschen
Sprache an der Akademie allmählich eine
leidliche Existenz. Dorthin holte er sich später
von Königsberg seine Gattin. Allerdings nicht
ohne Hindernis: Beide wurden nämlich auf der
Hochzeitsreise verhaftet und nach einer in Poli-
zeigewahrsam verbrachten Nacht ausgewiesen.

So wandelte Schweichel nun auf dem
harten Pfade des Exils, emsiger Lehr- und
publizistischer Tätigkeit hingegeben. Wenn es
für den Verbannten einen Trost gab, so war
es allenfalls der, daß mit ihm viele politische
Gesinnungsgenossen und deutsche Landsleute
das gleiche Los teilten. Unter anderen saß
da im nahen Genf August Braß, der „blut-
rote" Republikaner von 1848 her. Der wurde
mit Schweichel bekannt und bewog ihn zur
Mitredaktion an seiner „Genfer Grenzpost".
Einige Jahre später sollten diese Beziehungen
übrigens zu einer ganz neuen Wendung im
Leben Schweichels führen. Braß hatte 1861
in Berlin die „Norddeutsche Allgemeine Zei-
tung", ein Wochenblatt mit demokratischer
großdeutscher Tendenz, gegründet. Als er
dann Schweichel die redaktionelle Leitung des
Blattes anbot, zögerte dieser nicht lange, an-
zunehmen, weil sich auch eine „neue Ära" in
Preußen vorzubereiten schien, und siedelte also
im September des genannten Jahres nach
Berlin über.

Wie nun genau nach Jahresfrist Wilhelm
Liebknecht, der Londoner Flüchtling, ebenfalls
in die Redaktion der seit Anfang 1862 täglich
erscheinenden „Norddeutschen" eintrat, wie
Braß Farbe wechselte und die utopistische
Idee des Engländers Urquart von einem
über allen politischen Parteien unabhängig
thronenden „Volkskönigtum" als Brücke be-
nutzen wollte, um als bezahlter Lakai Bis-
marcks zur Reaktion überzugehen — dies und
anderes haben wir ja längst aus Liebknechts
und Schweichels Mitteilungen in der „Neuen
Welt", im „Neuen Weltkalender" und anderen
Orten ausführlich erfahren. Beide traten
kurzerhand aus und lehnten obendrein aber
auch jedes Angebot einer externen Mitarbeit
nachdrücklich ab. Schweichel ging dann als
Redakteur nach Hannover. Liebknecht blieb
in Berlin, fand aber, als er im Spätsommer
1865 ausgewiesen wurde, mit seiner Familie
bei Schweichels sichere Zuflucht. Beide Kämpen
trafen sich nach der Annexion Hannovers in
Leipzig wieder. Hier redigierten sie seit Januar
1868 das von der Sächsischen Volkspartei ge-
gründete „Demokratische Wochenblatt", den
späteren „Volksstaat", gemeinsam „fleißig an
demselben Tische".

Noch einmal kam Schweichel in den poli-
tischen Vorkampf. Es war dies am 5. Sep-
tember 1868 auf dem Verbandstage des Ver-
bandes deutscher Arbeitervereine zu Nürnberg,
wo er durch eine meisterhafte Rede wesentlich
dazu beitrug, daß der Verband die Funda-
mentalsätze des kommunistischen Manifestes
zu den seinigen machte.

Fast unmittelbar nach dein Nürnberger
Tage wurde Schweichel dem Dienste der

Parteipresse entzogen. Denn schon zuvor hatte
er sich für die Übernahme der Redaktion der
Jankeschen „Deutschen Romanzeitung" ver-
pflichtet gehabt und nahm nunmehr in Berlin
seinen dauernden Wohnsitz. Nach dreizehn-
jähriger ersprießlicher Arbeit trat Schweichel
zurück. Er hatte von seiner sozialdemokrati-
schen Anschauung und Anhängerschaft nie-
mals ein Hehl gemacht. Da war es, wie ich
von ihm einmal gesprächsweise vernommen
zu haben glaube, wohl denkbar, daß so man-
cher Leser der „Romanzeitung" aus dem
reaktionären preußischen Feudaladel Anstoß
an dem „anrüchigen" Redakteur genommen
und die Beugung seines persönlichen Ein-
flusses bei Otto Janke schließlich durchgesetzt
haben mochte. In der „Romanzeitung" waren
ja die meisten seiner alpinen Volksgeschichten
und Hochlandsromane erschienen. Darin ist
so manches, was den hohen Herren etwas
derb und deutlich ins Gewissen redete.

In rein literar-künstlerischer Hinsicht war
dieser ganze Zeitabschnitt für Schweichel, den
Schriftsteller, von hoher Bedeutung gewesen.
Die materielle Sicherheit hatte die schöpferi-
schen Kräfte ausgelöst. Werk um Werk mehrte
sich. Die Stoffe wuchsen. Mannigfache Reisen
und Wanderungen, vorwiegend in alpine
Gegenden und durch ganz Italien, gaben
Anregungen in Hülle und Fülle. Die Persön-
lichkeit des Dichters und Menschen breitete
sich aus, gründete in die geheimnisvollsten
Tiefen des Lebens und erklomm die Sonnen-
gipfel geistiger Freiheit, künstlerischer Reife
und Schönheit. Mit alpinen Dorf- und Bauern-
geschichten,^ deren meiste wohl auf schweizeri-
schem Boden entstanden waren oder später
in Berlin Gestalt empfingen, setzte Schweichel
ein. Die Schweiz, Tirol hatte er ja aus eigener
jahrelanger Anschauung kennen gelernt, wie
selten einer. Und wahrlich, er hat sich als ein
echter Finder erwiesen. Der Schauplatz dieser
Erzählungen und Romane erstreckt sich vom
französischen Jura bis in die Walliser, Sa-
voyer und Tiroler Alpen. Eine wunderbare
Gebirgswelt erschließt Schweichel da und
macht uns hoch droben und tief in den
Tälern mit eigengearteten Menschen vertraut.
Wir sehen allerhand Volk: Bergführer und
Wildheuer, Jäger und Schmuggler, Jndustrie-
und Landarbeiter, Großherren und Kaufleute,
Spekulanten und Makler, Grenz- und Zoll-
wächter, Streuner und Tagediebe, Bettler
und steinreiche Bauern. Die sind pfiffige
Ironiker und Menschenverächter, die edel-
herzige tiefangelegte Philosophen, eigensinnige
Forscher- und Grüblernaturen. Großartige
Höhencharaktere sind die einen, kleinliches
Schmarotzergeschmeiß die anderen, und da-
zwischen stehen sündhafte, doch auch seelen-
starke, vor allem opfermutige Frauen. Wer
hätte je ahnen mögen, welch einen schier un-
erschöpflich enReichtum an Menschench arakteren

* „Das weiße Kreuz in Ormont." „Brigitte." „Die
Rose von Lavanchä." „Der Teufelsmaler." „Die Wild-
heucrin." „Der Uhrmacher vom Lac de Joux." „Heimat-
los." „Der Krämer von Zlltez." „Der Wunderdoktor."
„Der Schmuggler." „Verloren." „Der Bildschnitzer vom
Achensee." „Aus dem Kranwethos." „Sein oder Nichtsein."
 
Annotationen