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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 25.1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.6608#0398
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6066

Ein schneidender Wind wehte über die
Unrein von Norden her blies er herunter in
beißender Schärfe und erzeugte ans Stirn und
Wangen ein trockenes, brennendes Gefühl der
Kälte.

Die nur von wenig Schnee bedeckten Felder
ließen hier und da schwarze Ackerkrumen her-
vortreten, wodurch das im nächtlichen Sternen-
schimmer daliegende hügelige Gelände einen
schmutzig-grauen Anstrich erhielt und in der
Ferne, nach dem Walde hin, in unsicheren
Farben verschwamm.

Es war Weihnachtsabend.

Die Nacht war hell und klar und ließ die
Konturen umliegender Dörfer deutlich er-
kennen. Glockentöne erfüllten die Luft, von
allen Seite» kamen sie, und es war, als ivenn
sie aus der Erde drangen und sich wieder ver-
flüchteten, irgendwohin, ein monotones tiefes
Gesumme hinterlassend.

Bald schwiegen die Töne; in den Kirchen
der uinliegenden Dörfer war die heilige Christ-
nachtfeier zu Ende. Dafür blitzten aber bald
in den Häusern der fcrnliegenden Dörfer Lichter
auf, welche von brennenden Weihnachtsbäumen
herrührten, und warfen durch das Dunkel der
Nacht einen schwachen Schein ans die stille Flur.

Als die Glockentöne erklangen, war die
einsame Wanderin ans dem Feldweg, welcher
von O. nach H. herüberführte, wie aus tiefem
Sinnen erwacht, stehen geblieben, ein schwerer
Atemzug hatte sich ihrer Brust entrungen. Eine
Weile nur, dann gab sie ihrem vollgepackten
Korb, den. sie auf dem Rücken trug, einen
kräftigen Ruck und ging mit großen Schritten
weiter, ihrem Wohnort zu, denn sie mußte
heim, schnell heim in ihr trauriges Heim, in
dem ja das Elend nnd die Not aus allen
Winkel» grinste und ein totkrankes Kind nnd
drei hungernde Mäuler ihrer harrten.

& Die Weberin. ☆

Eine Wcihnachtserzählnng von E. Schubert.

Soeben hatte sie ihr ödes, freudloses Da-
sein für einen Augenblick vergessen, die Glocken-
töne der Christnacht hatten sie, ohne daß sie
es wollte, in die sorgenfreien Tage einer
sonnigen Kindheit zurückversetzt, und als sie
jetzt mit großen Schritten dahinging, lagerte
noch ein stiller Abglanz seligen Erinnerns auf
ihrem müden, abgehärmten Gesicht. Welcher
Abstand doch — damals und jetzt!

Mit einein vollgepackten Korbe gewebter
Handtücher war sie nachmittags den zwei
Stunden weiten Weg nach Sp. gegangen, wo
sie die fertige - Ware abliefern mußte. Sie
hatte die letzte Woche vor dem Feste fast Tag
und Nacht hinter dem Webstuhl verbracht und
trug nun ihren kärglichen Arbeitslohn im Be-
trag von sieben Mark in der Tasche.

In der Mitte des Dorfes lag ihre Wohnung.
Klein und ärmlich, aber sauber.

Sofort als sie am Tage mit ihrem Pack
fort ivar, hatten flinke Kinderhände das Stüb-
chen gesäubert, den Webstuhl von den anhaf-
tenden Wollflocken gereinigt, nnd nun durfte
bloß Mutter kommen, und auch in diesem
ärmlichen Stübchen konnte die „Weihnachts-
feier" beginnen.

Auf dem Tische brannte ein Lämpchen. Die
Kinder hatten sich um den geheizten Kanonen-
ofen gesetzt: nur Karl, der große Junge, lief
öfters zur Tür hinaus, um nach der Mutter
auszuschauen.

„Kimmt denn die Mutter immer noa ni?
Immer is se sn lange, und ich äugst' mich
doa sn siähr!"

Die blecherne hohle Stimme, ivelche die
letzten Stadien der Schwindsucht verriet, rührte
von einem jungen, sechzehnjährigen Mädchen
her, das auf einem mit vielem Gerümpel be-
deckten Kanapee in der Nähe des Kachelofens
saß. Es war die älteste Tochter der Male,

wie die Weberin im Dorfe genannt wurde.
Das Mädchen hatte von ihrem an der Schwind-
sucht verstorbenen Vater den Keim der Krank-
heit mit auf den Lebensweg bekommen und
war jetzt, erst im Alter von sechzehn Jahren,
eine dem Tode Geweihte.

In dem Scheine des Lämpchens spiegelten
sich zwei große braune Augen in hektischem
Glanze und, obgleich ihre Wangen eingefallen
und das Gesicht einen schwerleidenden Ein-
druck machte, waren die Spuren großer Schön-
heit in diesem jungen Mädchengesicht unver-
kennbar. Aber es war vom Tode gezeichnet,
und man sah, daß ihr junges Leben zu Ende
ging-

Als Karl mit dem frohen Rufe: „Jtze kimmt
die Mutter!" zur Tür hereinkam, sprangen die
Kinder aus und drängten nach der Stubentür.
Auch Luise, die Kranke, hatte sich vom Kanapee
erhoben und tastete am Webstuhl entlang bis
in die Mitte der Stube.

Wenn sonst schon unter den Kindern nicht
die laute Fröhlichkeit der Jugend herrschte,
so war es an diesem Abend, dem Weihnachts-
abend, besonders still. Heute, zum fröhlichen
Weihnachtsfest, wo überall die Liebe ihre
Gaben streut, fühlten sie so recht den Fluch
des Armseins, der grauen, öden Not. Und
als die Mutter schweigend in die Stube ge-
treten war nnd ihren mit Wolle zum Weben
beladenen Korb abgesetzt hatte, herrschte eine
bedrückende Stille. Vielleicht war es auch die
Sorge um die totkranke Schwester, welche aus
dem Gemüt der Kinder jeden Anflug von Lustig-
keit verbannte.

Gleich nachdem sie ihre Last abgelegt hatte,
war die Mutter an das Lager der Tochter
getreten. „Na, Luise, wie is diärsch denn!"

Aus der Stimme dieser Frau klang ein
herber Ton ernster Lebenserfahrung. In der
 
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