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U067 •

Gleich nachdem sie ihre Last abgelegt haue, war die Mutter an das Lager
der Tochter getreten.

Tat, sie hatte Vieles und Schweres ertragen,
ihr hatte das Leben viele Bitternisse bereitet,
bis hierher hatte, sie das Los der allerärmsten
Proletarierin getragen, ohne mit den Wimpern
zu zucken. Sie war nicht zusammengebrochen,
als sie mit vier verwaisten Kindern an der
Bahre ihres Mannes stand. Aber jetzt, als
sie sah, daß ihr Liebstes, ihre Luise, ihr durch
ein grausames Geschick entrissen werden sollte,
drohten ihre Kräfte zu versagen. Die Schatten
der Vergangenheit, jene Krankheit, welche sich
wie ein schleichendes Gift in den Proletarier-
familien sortpflanzt, woben ein düsteres Ver-
hängnis um sie und ihre, Kinder. Vielleicht
ahnte sie es auch, daß dieses Kind nicht das
letzte war, das sie dem Würgengel Schwind-
sucht zum Opfer bringen mußte.

„Hoaste denn immer wieder sn hnst'n miiss'n,
Luise?"

„Ja, Mutter — 's gieht goar ni mich —
goar ni mieh!"

Die letzten Worte erstarken in einem Flüstern,
und hilfesuchend bohrte sich der Blick derKrnnke»
in das Gesicht der Mutter.

„Ja, ich sah's, 's gieht ni mieh — goar ni
>nieh — ich sah's, nu schun!"

Erschüttert bog sich die Mutter weg und
wandte sich dem Tische zu, wo Karl, Mielchen
und Emma unterdessen beschäftigt gewesen
waren, den Korb auszuleeren.

Um den Kindern wenigstens eine kleine
Freude zu machen, hatte die Mutter für wenige
Pfennige einige Wachsstöcke gekauft; die wurden
nun angezündetl So hatten auch sie ihre Weih-
nachtsfeier.

Die Kinder saßen am Tische und hatten ihre
brennenden Wachsstöcke vor sich stehen. Schon
einigemal halte Karl Anlauf genommen, um
etivas zu sagen, aber er brachte es nicht her-
aus, bis Mielchen ganz unvermittelt zu er-
zählen nnfing:

„Mutter, Karle hoat loass'n senn Hoans
schlackst'». Ar hoat'n o falber zun Fleescher
geschafft. Denk ock!"

Als dies Geheimnis, das Karl schon den
ganzen Tag auf dem Herzen gelegen hatte,
endlich heraus war, fing der Junge so heftig
an zu schluchzen, daß er das vor ihm stehende
Wachslicht anspustete.

Erst nach einer langen Paris« sing er an zu
erzählen:

„Mutter, die ock ni diese! Ich hoa's ja ni
garne gemacht — wir miss'n doa aber o amol
a bisst Fleesch zu ass'n hoan — immerfort hoan
miar ock Adern un Quoark. Urrd immerfort
könnt 'ch doa mei Koaririckel o ni behal». Ich
war schun rvieder a neues krieg'n, Rengersch
Gustav gibt miar a jungs, wenn seine Siene
wird Heck'». Jaa!"

Bei den letzter, Worten hatte sich das
Gemüt des Jungen rvieder etivas arrfgehellt,
auch seinen Wachsstock setzte er rvieder in
Brand.

Die Mutter hatte nichts gesagt, sic war in
den Hausflrrr gegangerr, wo der „Haris", als
formlose Masse in eine tönerne Schüssel ein-
gebettet, auf dem Herde stand, bestimmt, ein
leckeres Mahl für diese Armen zu werden.

Sie hätte es niemals über sich gebracht,
den Jungen zu überreden, das Tier schlachten
zu lassen; aber nu», da es geschehen, war sie
innerlich froh, rvenigstens rvar nun für die
Feiertage etrvaS Fleisch zum Essen da, woran
sie sonst bei ihrem kärglichen Verdienst nicht
hätte denken können. Bedurfte doch auch die
kranke Luise dringend einmal etwas kräftigere
Nahrung.

Ein schrecklicher Hllstenanfall der Kranken
zrvang die Mutter, rvieder in die Stube zu
gehen, rvo Luise lang ausgestreckt auf dem

Kanapee lag und röchelte. Ihr Gesicht glühte
fieberhaft, infolge der Anstrengung rvaren die
Augen übernatürlich weit geöffnet. Die Mutter
schob den Arm unter den Kopf der Kranken
und wischte ihr mit einem Tuche den Schrveiß
von der Stirn ab.

Als der Anfall vorüber war, lag die Kranke
wie leblos auf ihrem Lager. Tiefe Stille herrschte
in der Stube. Die Kinder hatten ihre Wachs-
lichter nusgelöscht, um durch den durch das
Brennen des Wachses entstehenden Rauch den
Hustenreiz der Kranken nicht noch zu steigern.
Sie hatten auch keine Freude mehr an ihren
primitiven Weihnachtslichtchen, als sie sahen,
rvie entsetzlich die Schwester leiden mußte.

Die Mutter war vom Kanapee hinrveg-
getrete» und bedeutete den Kindern schweigend,
schlafen zu gehen. An das Einnehmen eines
frugalen Abendmahls dachte niemand.

Als die Kinder die Stube verlassen hatten,
bereitete sich die Mutter aus den Wollbündeln
ein Lager auf dem Stubenboden; sie wollte
für diese Nacht, die vielleicht die letzte für
ihr Kind sein konnte, immer bei ihm sein.
Denn es ging mit Luise zu Ende, das fat)-
sie nun. Dann hatte sie ja nichts mehr von
ihr als die Erinnerung.

Sie rvollte auch nicht schlafen, nur ruhen.
Bange Sorgen standen in ihr ans. Die Kosten
des Begräbnisses, ivenn Luise gestorben war,
und ihre jämmerlich gedrückte Lage! Zu Neu-
jahr war auch der Zins für die Wohnung
fällig! Was sollte werden? Betteln und bitten
rnochte sie nicht, noch nie hatte sie sich bis
jetzt in dieser Weise vor fremden Menschen
erniedrigt. Die kurzen, stoßweisen Atemzüge
der Kranken hallten Seufzern gleich durch das
niedrige Gemach. Draußen heulte der kalte,
scharfe Wintersturm und trieb harte Schnee-
körner prasselnd gegen die Fensterscheiben.
Von ferne her tönte Hundegebell, das sich mit
dein Heulen des Windes in einen mißtönenden
Akkord vermischte.

Auf dem Tische schrvälte die kleine Petroleum-
lampe und erzeugte im Verein mit den Aus-
dünstungen der Kranken einen unangenehmen

Geruch. Unbekümmert um so viel Leid und
Schmerz, der in dem Raum herrschte, tickte
die alte Wanduhr ihre gleichmäßigen Pendel-
schrvingungen. — — — — — — — —

Gegen Morgen starb Luise. Als die Mutter
einige Stunden auf ihrem harten Lager in
der Stube gelegen und wider Willen ein-
geschlummert war, rvurde sie durch einen
klagenden Ruf der Kranken aufgeschreckt.
„Mutter! Mutter!" hatte es einigemal angst-
voll gerufen.

Als sie an das Lager der Kranken trat, von
einem Frostgefühl geschüttelt, rvußte sie, daß
es zu Ende ging.

Luise konnte nicht mehr reden, aber ihr
flackerndes Auge folgte angstvoll jeder Be-
wegung der Mutter. Immer irrer, unruhiger
wurden ihre Blicke, bis sie allmälich lang-
samer wurden, immer langsamer und zuletzt
standen die braunen Augensterne still auf die
Mutter gerichtet, rvelche sich in stummem laut-
losem Weh über das Totenlager der Tochter
gebeugt hatte. Diese Kindesaugen schienen
sich auch im Tode noch nicht von dem lieben
Muttergesicht trennen zu wollen. — — —

In strahlendem Glanze brach der Christtags-
morgen herein. Die über die Tafelfichte herauf-
gestiegene Sonne hatte auf der weilen Schnec-
fläche, auf Bäumen und Strüuchern Milliarden
glitzernder Diamanten erzeugt.

Eine Flut blendenden Sonnenlichtes hatte
sich auch den Weg durch die niedrigen Fenster-
scheiben der Hütte in der Mitte des Dorfes
gebahnt, wo die Weberin Male wohnte.

Sie beschien eine Gruppe von Kindern,
welche am Tische saßen und lautlos mit angst-
vollen Blicken dem Hantieren der Mutter zu-
sahen, die immer noch stumm am Lager der
Toten saß und jeden lauten Schmerzensaus-
brüch der Kinder fast unwillig abwehrte.

Und auch über das Lager Luisens hinweg
huschten Sonnenstrahlen und zeichneten um
das Haupt der Entschlafenen die Märtyrer-
krone.
 
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