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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 27.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.6708#0409
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Das Märchenschloss.

Zeichnung von E. Erk-

Der Poet, der, 79Jahre alt, ain IS. November
in Braunschweig gestorben ist, hat nie zu den
eigentlichen Lieblingsschriftstellern des deutschen
Publikums gehört. Von seinen zahlreichen Dich-
tungen haben nur wenige Romane und No-
vellen, „Die Chronik derSperlingsgasse," „Der
Hungerpastor", „Abu Telfan oder die Heim-
kehr vom Mondgebirge", „Der Schüd-
derung", „Gutmanns Reisen", eine
größere Anzahl von Auflagen erlebt.

Keines seiner Werke hat beim Erscheinen
irgendwelche Sensation hervorgerufen.

Seine Gemeinde ist bis auf den heutigen
Tag nicht gerade groß, aber die, die
ihn wirklich kennen und ein tieferes
Verständnis für seine Eigenart gewon-
nen haben, hängen ihm in treuer Ver-
ehrung an, und es sind nicht die schlech-
testen unter den Zeitgenossen, die jetzt
um ihren verstorbenen Lieblingsdichter
trauern.

Wilhelm Raabe wurde am 8. Sep-
tember 1831 zu Eschershausen int Braun-
schweigischen geboren, studierte in Berlin
Philosophie und Geschichte und widmete
sich bald ausschließlich dein literarischen
Beruf. Er lebte während der sechziger
Jahre in Stuttgart, seit 1870 in Braun-
schweig. Seine entscheidenden Entwick-
lungchnhre, die Zeit, in der Intellekt
und Charakter sich bilden, fielen in die
Reaktionsepoche, die auf das Jahr 1818
folgte. Sie ivar für das freiheitlich ge-
sinnte deutsche Bürgertum die Epoche
der begrabenen Hoffnungen. Müde Ver-
drossenheit und dunlpfe Verbissenheit,
eine allgemeine triste Katzenjammerstim-
mung, beherrschte die Geister. Die Ara
Bismarck brachte dann plötzlich einen
tiefgreifenden Umschwung. Die deutsche
Bourgeoisie ging mit klingendem Spiel
und wehenden Fahnen zu ihrem bis-
herigen Todfeind über. Ihre materiellen Wün-
sche und Hoffnungen wurden befriedigt, auf
die idealen Güter, auf Freiheit und Kultur
pfiff sie hinfort. Während sie den liberalen
Leib an den neu erschlossenen Futterplätzen
sehr reell mästete, begnügte sich die liberale
Seele mit den kümmerlichen Surrogaten hohler
und schivindelhafternationalerPhrasen. Gegen-
über dem Hexensabbat der geeinigten reaktio-
nären Masse setzte ein Teil des edleren und
vornehnier empfindenden deutschen Bürger-
tums, das die alten Kulturideale nicht anf-

Wilhelm Raabe.

geben wollte, den aussichtslosen Kampf noch
eine Weile fort, ein anderer zog sich grollend
zurück. Er verstand die Zeiten nicht mehr, er
spann sich ein und bildete sich unabhängig von
der unerfreulichen Wirklichkeit, seine eigene
Welt im Reiche des Geistes. Es sind das Er-
scheinungen, die überall zutage treten, wo auf

derGrundlage veränderter wirtschaftlicherVer-
hältnisse starke geistige Umwälzungen sich voll-
ziehen.

Ein Nachzügler aus der Zeit, da das deutsche
Bürgertum noch lebendige kulturelle Ideale
hatte, und einer von denen, die sich in die
neue Epoche nicht zu finden wußten, war
Wilhelm Raabe. Aus dem Zwiespalt zwischen
dem, was er als das Gute, Wahre und Schöne
erstrebte, und dem, was die Gegenwart ihm
tagtäglich bot, ging seine eigenartig pessi-
mistische Welt- und Lcbensanschauung hervor.

die in ihren Grundzügen von der Philosophie
Schopenhauers unverkennbar beeinflußt ist.
Auch Raabe sieht, ähnlich wie Schopenhauer,
das Heil in einer Art Verneinung des Willens
zum Leben, in der Unterdrückung der egoisti-
schen Regungen, in der selbstlosen Menschen-
liebe und der tapferen, opferfreudigen Hiri-
gabe an ein Ideal. Wer in diesem Sinne
den Willen zum Leben, das heißt die
eigensüchtigen Gelüste in feinemJnnern
ertötet, der hat das höchste Ziel erreicht,
das der Mensch in seinem Leben zu er-
ringen vermag. Dabei ist Raabe keines-
wegs ein radikaler, konsequenter philo-
sophischer Pessimist wie Schopenhauer.
Die heutige Welt freilich gefällt ihm
nicht, aber er glaubt, daß es eine
bessere Welt geben könne und daß es
eine bessere gegeben habe. Er lehnt
die ihn umgehende und peinigende
Gegenwart ab und flüchtet sich in sein
poetisches Phantasiereich. Aber dieses
Reich bildet er sich nicht aus hoffnungs-
frohen Zukunftsträumen, sondern aus
romantisch verklärten Erinnerungen an
vergangene vermeintlich schönere und
bessere Zeiten.

Es ist charakteristisch, daß Raabe sein
Erstlingswerk, die „Chronik der Sper-
lingsgasse" (1857), in Tagebuchaufzeich-
nungen eines alten Mannes gibt, daß
also schon der fünfundzwanzigjährige
Poet die Welt und das Leben mit den
Augen eines Greises zu sehen sich be-
mühte. Und eine etwas müde und resig-
nierte Stimmung, ein in gewisser Hin-
sicht greisenhafter Ton ruht wie ein
stiller Schleier über allen seinen Dich-
tungen. Raabe ist recht eigentlich der
Meister der Biedermeieridylle. Das
kleinstädtische Leben der Großväterzeit,
winklige Gassen, von Giebelhäusern ein-
geschlossene Marktplätze, trauliche, von Knaster-
undLavendelduft erfüllteWohnzimmer, in denen
großgeblümte Sophas und hohe Lehnstühle
stehen — das ist das Gebiet, auf dem seine
Phantasie sich heimisch fühlt. Und zu diesem
altfränkischen Milieu paßt vortrefflich die Art.
wie der Dichter erzählt und schildert. Er hat
nichts von moderner Hast und Nervosität an
sich, er läßt sich reichlich Zeit und Muße. Mit
behaglicher, nach unserem heutigen Geschmack
oft etwas allzu weitschweifender Breite trägt
er seine Geschichten vor. Die Scknlderungen
 
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