Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 28.1911

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6709#0420
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
7318

R. Hannich


Ahasver im Schnee.

Von Paul Enderling.

Den ganzen Tag über hat es in dichten
unaufhaltsam ivirbelnden Flocken geschneit.
Jetzt am Abend bildet der Schnee eine feste,
harte Decke über der Erde; es knirscht ordent-
lich, wenn Ulan fest auftritt.

Der kleine Gerd geht init schnellen Schritten
durch den Winterabend die Chaussee, die von
dem Borort, in dem seine Eltern lvohnen, zur
Stadt führt. Ab und zu schreien Raben traurig
und anißtönig. Die Bäume stehen unter ihrer
Schneelast tiefgeduckt. Es ist sehr einsam.

Aber der kleine Gerd hat keine Angst. Ihm
kann nichts passieren. Ihn bestiehlt niemand;
denn er hat ja nichts.

Sein dünnes Röckchen lockt keine Räuber
an. Geld hat er nicht. Seine einzigen Schätze
sind die zivanzig Hampelmänner, die er in
seinen verfrorenen Fingern hält.

Die will er heute verkaufen. Das Stück für
fünf Pfennig. Vielleicht gibt auch einer in der
Festfreude einen ganzen Groschen. Und wenn er
recht viele verkauft, kann er sogar mehr heim-
bringen als Vater, der als Schneeschnipper in
der Stadt Arbeit gefunden hat. Mutter, die
krank z>l Bett liegt und das kleine Schwesterchen,
das immer über Hunger klagt, lvird Augen
machen!

An einer Wegbiegung bleibt er stehen: quer
über das Feld wandert ein großer Mann, dessen
iveißer Bart im Mondlicht flimmert. In der
Abendstille hört man deutlich das Aufstampfen
der Füße und des Wandersteckens auf dem fest-
gesrorenen Boden und das Keuchen des Alten.

Er kommt gerade auf ihn zu. Gerd läuft
nicht fort. Er sieht mit unverhohlener Nellgier
den Fremden nahen.

Jetzt steht er dicht vor ihm. Gerd sieht in
zivei gütige Augen, die unter weißen buschigen
Brauen ihn anblicken.

„Guten Abend, fremder Mann!"'

Der Alte bleibt stehen und dankt. „Der erste
Gruß seit langer Zeit", murmelt er.

„Gehst du auch zur Stadt? Dann mußt du
hier herunter." Und er weist auf den rötlichen
Lichtschein, den die tausend Flammen der Stadt
auf den Himmel werfen.

D>er Alte widerspricht nicht, sondern wan-
dert eine Weile neben ihm her.

Ein klein bißchen Geschäftsgeist erwacht in
dem Knaben. „Kaufst du mir vielleicht einen
Hampelmann ab?"

Aber er bereut seine Frage, kaum daß er
sie getan, als er das schmerzliche Lächeln seines
Begleiters sieht. Der hat gewiß so wenig Geld
wie er selber.

Darum setzt er schnell hinzu: „Natürlich
schenke ich dir auch einen, wenn du magst.
Hier diesen roten mit der gelben Zipfelmütze.
Ich habe ihn dreimal geklebt."

„Warum bist du bei der Kälte nicht zu
Hause, Kind?"

„Warum? Gott, bist du dumm!" Und er
erzählt ihm von der Armut daheim und von
dem Hunger, der sie plagt. Mitten im Erzählen
unterbricht er sich: „Bist du vielleicht der
Weihnachtsmann? Zu mir ist er noch nie ge-
kommen. Aber es gibt einen. Ich habe davon
gelesen."

Der Alte reckt sich hoch auf, zu einer schier
übermenschlichen Größe und zögernd, wie
gegen seinen Willen, sagt er seinen Namen:
„Ahasver!"

Der Name kommt Gerd bekannt vor, als
hätte er ihn schon mal gehört. Aber er kann
sich nicht entsinnen und grübelt darüber nach.

Grübelnd wandert auch der Alte neben ihm.

Er denkt seiner laugen Wanderung seit dem
Tage, wo die Pfaffen und Philister den trotzigen
proletarische» Aufrührer Jesus vor das Tor
zerrten und am Kreuze unschädlich machten ...
des Zimmermannes Sohn starb. Aber seine
Lehre lebte weiter, getragen von den armseligen
Fischern und Handwerkern, die die Begeiste-
rung groß und heldenhaft gemacht hatte.

Er denkt der ersten Gemeinden einige Jahr-
zehnte später, die für einander arbeiteten und
so einander das Leben erleichterten und ver-
schönten. Werkzeuge und Boden gehörten nicht
einem Reichen, sondern ihnen allen. Und was
ihre Hand der Erde und dem Material ab-
gewann, kam wiederum nicht einem Reichen
zugute, sondern ihnen selbst und ihren Kindern.

Aber die Pfaffen hatten inzwischen hinzu-
gelernt. Schmiegsam wie sie waren, nahmen
sie die Lehre, die eine Macht zu werden be-
gann, an, kneteten sie zurecht und benützten
sie zur Herrschaft.

Und Ahasver denkt der langen Jahrhunderte
voll Blut und Greuel und Schmutz und Teu-
felei — im Namen dieser Religion der Liebe.
Es kamen die Bilderstürmer in Alexandrien,
die die unermeßlichen, unersetzlichen Bücher-
schätze, die seit Jahrhunderten dort aufgestapelt
lagen, in sinnloser Wut verbrannten und ver-
nichteten. — Es kamen die Bekehruugszüge
der fränkischen und sächsischen Könige, die den
Bewohnern der eroberten oder überlisteten
Länder die Wahl zwischen dem Tal und dem
Kreuz Christi ließen: an der Aller begann das
Spiel, an der Elbe, der Oder, der Weichsel
setzte es sich fort. — War wirklich alles ver-
gebens gewesen?

Und dann gellte von Wittenberg her" ein
Trompetenstoß über den Pfaffenmorast hin.
Luther, der Bergmannssohn steht auf. Aber
er versteht die Zeichen der Zeit nicht: der
Priester ist zu stark in ihm.

Ahasver denkt der verzweifelten Bauern,
die des Hungerns und Fronens überdrüssig
sind und deren wilde anstürmende Welle an
der kompakten Majorität der Ritter, Fürsten

und Städte sich bricht und zerrinnt. Blut-
ströme rieseln über das Land und machen es
unfruchtbar-

Und wiederum Jahrhunderte voller zweck-
loser dummer Kämpfe für fürstliche Launen —
bis jäh der große Vulkan Paris Feuer speit,
daß es über die Welt leuchtet.

Ein Königshaupt fällt und mit ihm fallen
Jahrhunderte alte Schranken, das Volk steigt
auf die Bühne und spielt mit. —

Aber ein neuer Gegner, Gott Mammon,
wächst empor und legt sich breit und schwer
über den Weg, der alle zur Höhe führen soll.

Ehe er nicht gestürzt ist, werden die Men-
schen nicht frei. Wann wird es sein?

Wie eine Antwort klingen fernher Glocken
in die stille Landschaft... Weihnachtsglocken...
Aber er schüttelt das Haupt. Das ist keine
Antwort! Diesen frommen Betrug kennt er
So klangen sie immer... immer...

Und doch müssen noch immer Menschen
leben, nur um zu arbeiten und müssen noch,
immer Kinder hungern und frieren!

Dabei fällt sein Blick wieder auf seinen
kleinen Begleiter, der tapfer neben ihm her-
schreitet.

„Gib deine Mütze her!"

Und in einer jähen Aufwallung schüttet er
eine Menge goldener, silberner, kupferner
Münzen da hinein: sie stammen aus alle»
Jahrhunderten und allen Zonen.

„Vergiß nicht: sie sind von Ahasver, dem
ewigen Wanderer, der durch die Zeiten wan-
dert wie die Sehnsucht der Menschheit, bis
die Zeit erfüllt ist! Bis die Zeit da ist, wo
für alle Menschenkinder ein Wohlgefallen sein
wird, wo die kleinen Gerds nicht mehr hungernd
und frierend auf den Straßen stehen, wo ihre
Eltern menschlich gelohnt werden und neben
der Arbeit noch Zeit für schöne, große Ge-
danken haben werden!!"

„Wo die Gerds sich satt essen können? Täg-
lich satt essen??" Gerd hat von allem nur
dies eine gehört. „Solche Zeit wird es mal
geben?"

„Ja. Sie wird kommen. Alle wandern wir
ihr entgegen."

Ehe Gerd noch gedankt hat, ist der Alte
schon vom Wege abgebogen und geht wieder
querfeldein über den verschneiten Sturzacker
hinweg dem dunklen Walde zu, der am Hori-
zont auf ihn zu warten scheint.

Gerd ruft ihm noch ein „Gute Nacht" zu
und stürzt dann spornstreichs den Weg zurück,
dem Elternhause zu.

Er läuft so eilig, daß er ein paar Hampel-
männer verliert. Die liegen jetzt auf dem
breiten Weg, recken die bunten Arme weit aus
und glotzen in die helle Dezembcrnacht, durch
die noch immer die Glocken klingen: hell, ju-
belnd, verheißend.

o o o
 
Annotationen