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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 29.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.8272#0422
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7752

Das Babnvwärtcrhaus.

Am Jenster des Rauschens sitzt tiefgebückt
Die blasse Srau und nicht und flickt.

Gin kleiner, verbogener Cannenbaum,
geschmückt mit Cid)tern und bunten Bändchen,
trägt ins Zimmer den CUeibnachtstraum.

£s lächelt die Trau: Tm nächsten Jahr
greifen danach zwei kleine Bändchen:
gar nahe ist Sreund Adebar —

Das Lächeln erstirbt bei ihr in Bangen:

Die Räude werden einst Brot verlangen!

Und an der Schwelle lauert die Hot;

Sie spürt ihrer knochigen Singer griff.

„Rerr, gib uns unser täglich Brot.“ —

3äb durch die stille Nacht gellt ein Pfiff.

6s dröhnt und schnauft und rasselt und kracht
Durch die stille, träumende Mitternacht. . .
Jäbrt da mit hellem Siegesschrei
Das blühende Leben selber vorbei?

Das Leben, das da draussen wacht,

Das jauchzt und lärmt und schreit und lacht?

In jeder Nacht erlebt sie dies:

Da braust der Expresszug Wien-Paris
Jim Räuschen vorbei, wie vom Sturm getragen.
Dringt aus dem hellen Speisewagen
Nicht bis zu ihr der Braten Duft,

Der Weinhauch durch die Winterluft? . ..

Klingt nicht das behagliche Lachen der Satten
Zu ihr herüber? Canzeude Schatten
Jliegen vorbei, £oupe um goupi,

Und nun vorüber — ade — ade —

Sie stützt ihr Raupt in Sehnsucht und Leid
Und starrt in die frierende Einsamkeit. p. e.

(Epigramm.

„Nehmt hin die N)elt, rief Zeus von seinen tjöRen,

Nehmt, sie soll euer sein!"-

Nch, dieser Zeus ist längst nicht mehr zu sehen,
Doch immer teilen sie sich noch darein.

Warnung.

Den Pfaffen ist nicht wohl, das Uolk will nicht mehr

glauben.

Uerzweifelnd drohen sie, den Bimmel ihm zu rauben!

gebt ihr nur lieber acht, dass nicht ein Oolks*

gelümmel

6.1 J) einmal noch zerstört den schönen Erdenbimmel!

Lebensrätsel.

Skizze von Roller-Verg.

Es war ihm schon einmal etwas nicht richtig
vorgekommeir auf dieser besten der Welten.

Das war aber mm viele Monate her. Seit
dem Herbst hatte Murks-Hannes eine seine
Stelle zlim Brotaustragen.

Und heute ivar Weihnachten.

Murks-Hannes machte Trapp auf dem Wege
zum Bäcker, denn es war barbarisch kalt. Um
die Gaslaternen war ordentlich ein weißer Hof
wie von gefrorenem Nebel. Unter jedem Schritt
piepte der Schnee wie eine getretene Maus.

Auf dem ganzen Wege hielt er beide Fäuste
in den Taschen. Mutter hatte ihm auch ein
Tuch um den Kopf gebunden, aber das reichte
nicht über das blaugefrorene Näsche», und
über den Rücken schon garnicht.

Also beeilte er sich — und das noch aus
einem andern Grunde.

Gestern Abend im Bett war es ihm ein-
gefallen. Für jeden Tag, an dem er austrug,

Briefträgers Trost, w.steinen

„Een Sttcf, bet Jolt bloß een' Sohn hatte! Hätt' er
mehr jehabt, denn mär' det Jefchäst zu Weihnachten noch
jrößerl"

hatte er vom Meister Paetfch einen Groschen
bekommen und sonst immer Brot oder Schrip-
pen dafür gefordert — die Hälfte für sich, die
andere für Mutter. Seinen Teil wollte er heule
opfern und bar Geld dafür haben. Für den
Sechser wollte er dann Mutter etwas kaufen,
worüber sie sich ganz gewiß freuen würde.
Ganz gewiß.

Das mußte er sich immer Vorhalten — den»
leicht war die Sache nicht. Gestern Abend,
ehe er zu Bette gegangen, hatte er einen großen
Teller Kartoffelsuppe gegessen und war ziem-
lich satt gewesen, und da war ihm der Plan
ganz einfach und selbstverständlich vorgekom-
men. Aber jetzt hatteer Hunger — schon
Hunger, und da hatte der schöne Gedanke
innere Schwierigkeiten.

Trotzdem wollte ers durchsetzen. Er machte
die Augen zu, um sich deutlicher vorstellen z»
können, wie die Mutter sich über ihn freuen
würde, und die Selbstsucht iu seinem Magen
suchte er niederzuringen dadurch, daß er jener
Vorstellung Worte gab und sie immer vor sich
hinflüsterte.

Endlich war er an Ort und Stelle.

Die Türklinke schnappte erst ein paarmal
zurück, ehe er mit seinen frostklammen Fingern
öffnen konnte und die Ladenglocke ihr schelten-
des Bimmeln ertönen ließ.

Hm — wie warm! Und hell! Und heute
roch es noch viel besser wie sonst —nach Mandel-
teig und Rosinen.

Murks-Hannes wischte sich das Näschen mit
dem Handrücken und sog den warmen, süß-
lichen Duft gierig in sich auf.

„Jung, was willst denn du heut!" rief der
Bäcker, indem er aus seiner Privatstube de»
Kopf in die Türe steckte. „Heut ißt die ganze
Kundschaft Kuchen. Heut gibts keine Schrip-
pen zum Austragen. Geh man wieder zu
Haus."

Bums war die Türe zu; denn der Meister
hatte wirklich alle Hände voll zu tun zum
Christfest.

Murks-Hannes schaute eine ganze Weile ver-
ständnislos drein. Dann ging er. Langsam,
ungläubig langsam. Die Türglocke machte nur
leise bimbim — als wenn ihr der kleine Kerl
leid täte, der da mit großen, runden, nach-
denklichen Frageaugen in den kalten Morgen
hinaustrat.

Und so viel er unterwegs auch nachgrübelte,
er konnte es nicht verstehe», daß er den Sechser
für Mutterns Weihnachten nicht haben sollte
— weil alle Leute Kuchen essen.
 
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