Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 31.1914

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8258#0333
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
8505

den Sinai bestieg er — regten die Landschaftsstimmungen ihn mäch-
tig an. Die erste Idee zu seinem großen Drama „Jesus, der Christ"
kam ihm.
Im Juli 1850 verließ Dulk seine Grotte, wo er sechs Monate
hindurch das Leben eines Eremiten geführt hatte, und kehrte nach
Europa zurück. In der Einsamkeit am Fuße des Sinai war es ihm
zur Gewißheit geworden, daß seines Bleibens in der Vaterstadt, ja
in Deutschland überhaupt nicht länger sei. Wie überall bei uns zn-
lande, so hatten auch in der alten Krönungsstadt am Pregel die sieg-
reichen Machthaber des politischen Rückschritts das Ruder in ihre
Hand gebracht. Dulk suhlte sich als Staatsbürger nicht mehr wohl
in Deutschland. Am Genfer See, anderthalb Stunden von Vevey
entfernt, fand er ein einsam gelegenes hölzernes Bauernhaus, das
zu der Gemeinde Chaulin gehörte. Er kaufte es, ließ es rot anstreichen
und bezog es noch l850. Acht Jahre hindurch, die Winter in seiner
„nraison rouAs" zu Chaulin, die Sommer auf einer romantischen Berg-
hohe, dem Cubly, wo er sich in einer Sennhütte einnistete, acht Jahre
hindurch gab Dulk sich oberhalb des Genfer Sees einer angestrengten
dichterischen Tätigkeit hin, die, ihren Haupterzeugnissen nach, unter
den Nachwirkungen seiner ägyptisch-arabischen Eindrücke stand. Neben
andern Arbeiten schuf er dort den „Jesus" und den „Simson"-
Das Passionsspiel „Jesus, der Christ" gehört geradezu zu den
merkwürdigsten Erzeugnissen unserer Literatur. Es will eine Ver-
menschlichung des von Kirche und Scholastik vergöttlichten Sohnes
Mariä sein und ihn uns vors Auge rücken in der scharf kritischen
Beleuchtung eines David Friedrich Strauß und Bruno Bauer. In
der Erklärung der Geburt wie der Wunder Jesu schlägt der Dichter
den rationalistischen, in der Erfassung der geistigen Natur seines
Helden aber den psychologischen Weg ein. Was diese geistige Natur
Jesu betrifft, so sucht Dulk uns dieselbe durch den Hinweis auf einen
menschheitsentwicklungsgeschichtlichen Prozeß zu erklären, und zwar
so, daß er uns den Nazarener gleichsam als den ersten Menschen einer
neuen Zeit hinstellt, als einen, in dem der Geist einer bis dahin un-
geahnten Menschheitsperiode zuerst zum Durchbruch kommt. Dieser
neue Geist aber in Jesu fällt sogleich in einen Irrtum über sich selbst,
der darin besteht, daß dieser Geist, gerade weil er neu und abweichend
ist von allen bisher gewohnten Denkformen — daß er xben darum
sich für ein übernatürliches. Überirdisches hält. Aus diesem Irrtum
entspringt nach Dulk die Überspannung des Selbstgefühls in Jesu,
aus dieser Überspannung aber folgerichtig die Selbstvergötterung des
Menschensohns.
Jesus ging nach Dulk unter air der tragischen Schuld: das poli-s
tische Element nicht ausgenommen zu haben in den Plan seines Lebens,
sich nicht an die Spitze der jüdischen Revolutionspartei gestellt zu
haben. Dieses politische Element vertritt in dem Drama Judas
Jschariot, der mannhafte Widerpart des weichgearteten Nazareners,
jener Judas, der kein Verräter im Sinne der Bibel, sondern ein be-
herzter Patriot, dem Messias gegenübersteht wie das Vollbringen
dem Wollen, wie das Wagen dem Wägen, wie die Tat dem Ge-
danken. Ein Joab will Judas dem Jesus sein, und an die Stelle
von dessen Essäertüfteleien will er ein entschlossenes Handeln setzen.
Reben dem edelmilden Jesus dieser dämonische, feurige Judas —
wahrlich, in diesem Gegenüber ist ein Gegensatz gegeben von hoher
dramatischer Wirkung. Man könnte diesen „Jesus, der Christ" mit
seinen grell kolorierten Charakteren als Träger einer chaotisch gären-
den Ideenwelt sehr wohl eine metaphysische Tragödie nennen.
Das zweite durch Dnlks Aufenthalt in Afrika angeregte Drama,
der „Simson", hat das glutvolle Kolorit des Orients mit dem „Jesus"
gemein. Auch tritt hier wie dort der biblische Stoff in den Dienst
einer rein menschlichen Idee, und zwar diesmal in den Dienst der
Idee, daß Demut und selbstlose Liebe höher sind als alles ehrgeizige
Wollen und Tun. Ruhmsucht, Glaubenseifer, fanatische Vaterlands-
liebe begegnen hier einander, zweimal vereint, in zwei durch Religion
und Nationalität geschiedenen Personen, in der Person Simsons, des
Hebräers, einerseits, in derjenigen Delilas, der Philisterin, anderer-
seits. Zwei Selbstnaturen wie aus Erz gegossen, beide stolz und un-
entwegbar, beide starr und schroff, beide groß in ihren Instinkten
und stürmisch in der Leidenschaft der Liebe, beide einander hassen
wollend und einander lieben müssend, er, echt judäisch, ein religiös
erhitzter Schwarmgeist voll brutaler Tatenlust, aber ohne Falsch und
Hehl, sie eine ekstatische Natnr voll der Glnt und Üppigkeit, aber
auch voll der List und Tücke der Asiatin — so stehen sie einander,
Verblendung und Schuld verhängnisvoll verkettend, im Widerstreit
der Triebe gegenüber, bis Schuld und Streit in dem tragischen Unter-
gang beider endet, aber auch in Reinigung und Versöhnung der
streitenden Gemüter.

Im Herbst 1858 siedelte Dulk uach Stuttgart über. Damit endet
die romantische Periode seines Lebens und Schaffens, und eine Periode
des Suchens nach neuen Zielen beginnt in ihm. Er trat in nahe Be-
ziehungen zu den Stuttgarter schriftstellerischen Kreisen. Das regte
ihn literarisch an. Neben der Drucklegung des „Simson" (1859) und
der des „Jesus" (1865) beschäftigte er sich in der schwäbischen Resi-
denz zunächst journalistisch. Auch verfaßte er einige wenig belang-
reiche kleine Dichtungen und Schriften. Dagegen trat er nach so langen
Jahren wieder politisch tatkräftig in die Front. Der Kampf zwischen
Österreich und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland wurde
damals immer akuter. Dulk schloß sich eng der süddeutschen Demo-
kratie an. Vielfach vertrat er in Wort und Schrift die Sache dieser
Partei, und das Kriegsjahr 1866 fand ihn im großdeutschen Lager.
Aber das trubulöse Leben nach außen hin, das Leben in Welt und
Zeit, konnte ihn seinem schaffenden Innenleben nicht entfremden. Der
unter die Städter geratene Wald- und Bergeremit konnte sich nicht
versagen, den Trieb nach Einsamkeit und einsamem Schaffen zu be-
friedigen. Hatte der Dreißiger in der Grotte im Sinaigebirge den
„Jesus" und den „Simson" konzipiert, nm beide Stoffe in der Alpen-
hütte auf dem Cubly dramatisch zu gestalten, so verlebte jetzt der
Vierziger manche schöpferische Stunde in von ihm aufgesundenen
Blockhütten, so zuerst im Untertürkheimer, dann im Leonberger Walde
und zuletzt auf den Eßlinger Höhen.
Wie seit den Tagen von Königgrätz auf den politischen Köpfen
Süddeutschlands ein gewisser schwüler Druck lag, so auch auf Dulk.
Um so eifriger stürzte er sich in die Arbeit. Seine hervorragendste
Veröffentlichung zwischen den beiden Kriegen ist sein Doppeldrama
„Konrad der Zweite" (1867), das denselben Stoff behandelt wie
Uhlands „Herzog Ernst von Schwaben" — ein Werk von entschiedener
Mächtigkeit des Wurfs, aber ohne einheitliches Stilgepräge, hierin
ganz unähnlich dem acht Jahre später erschienenen Schauspiel „Willa",
das angeblich 864 unter Ludwig dem Deutschen spielt. Die graziös
erfundenen Liebesgeschichten dieser „Willa" sind so reizvoll gewoben,
daß wir vor "lauter ästhetischem Wohlbehagen gar nicht nach der
historischen Legitimation der Dichtung fragen.
Einen markanten Einschnitt in Dulks Schaffen verursachte die Um-
gestaltung Deutschlands durch die kriegerischen Ereignisse von 1870
und 1871. Aber sie konnte an seinem großdeutschen Standpunkte nichts
ändern. Damals brach bei uns jene Zeit herein, die wir noch heute
nicht überwunden haben, die Zeit der Degradierung des unabhängigen
Gedankens, ja des Gedankens überhaupt in eine zweite Rangstellung:
die Zeit Bismarcks und der Selbstverherrlichung des Neugewordenen.
Da konnte Dulk, der Großdeutsche, nicht mittun. Mehr und mehr fing
er an, über die Mittel nachzudenken, wie den obwaltenden Zuständen
abzuhelfen sei; mehr und mehr trieb es ihn, sich mit der wirtschaftlichen
Frage zu beschäftigen. Dafür fand er wenig Verständnis bei seinen
früheren Stuttgarter Gesinnungsgenossen, die vielfach ihren Frieden in >
dem neuen Deutschland geschlossen hatten. Schon 1871 zog er sich in da.
benachbarte Dorf Untertürkheim am Neckar zurück, und 1875 erklärte
er seinen Beitritt zur sozialdemokratischen Partei. Der Poet in ihm
trat nunmehr hinter den Denker und Politiker immer mehr zurück.
Damit aber hebt die letzte Schaffensperiode Dnlks an, die eklektisch-
philosophische und radikal-politische, die man wohl auch kurz die
ethische nennen darf, da Dulk fortan alles Philosophische wie Poli
tische ethisch gewertet und gewogen wissen will.
„Der Humanismus ist auf den Plan getreten, um den Christia-
nismus abzulösen" — dieses Wort des ostpreußischen Denkers im
Schwabenlande kennzeichnet Richtung und Ziel seiner gesamten philo-
sophischen Spekulation. Raummangel verbietet uns leider, dieser Spe-
kulation in ihren einzelnen Phasen hier nachzugehen. Nur so viel sei
gesagt: Ein Originalphilosoph ist Dulk zwar nicht. Er steht auf den
Schultern der großen Repräsentanten der Tübinger Schule. Über-
feine zwei Hauptwerke auf philosophischem Gebiet, „Stimme der
Menschheit" (1875 bis 1880) und „Der Jrrgang des Lebens Jesu"
(1884 und 1885), zeigen ihn uns als einen der berufensten Propa-
gandisten des freien Gedankens in der Philosophie. Er führte als
solcher den weithintreffenden Speer des Agitators edelsten Geblüts.
Und ein hochaufgerichteter Agitator in Wort und Schrift war kr-
auch in der Politik — aber nicht immer ein glücklicher. Vier vergeb-
liche Kandidaturen, zwei für den Reichstag (1878 und 1881) und zwei
für den württembergischen Landtag (1876 und 1882) hat er in Heil-
bronn mit vierzehn Monaten Gefängnis wegen „Preßvergehens" und
„Gotteslästerung" gebüßt. Im Dezember 1879 aus der Haft entlassen,
war und blieb er an seiner Gesundheit schwer geschädigt. Auf dem
Stuttgarter Bahnhof starb der tapfere und geniale Mann am 29. Ok-
tober 1884 plötzlich infolge Herzschlags.
 
Annotationen