Jahreswechsel.
Ein Schleier sank ... Nackt steht vor
Was dichtverhüllt einst war, suns,
Was einst zu uns geheimnisvoll
Gekommen ist: ein Jahr.
Ihm jauchzten Millionen zu
Mit hoffnungsheißem Worte:
Sie kränzten ihm die Pforte
Und legten manchen Wunsch dazu.
Es reckten Arme sich empor,
Und qualvoll dumpfe Pein
Schrie flehend ihm ins taube Ohr:
Du sollst Erlöser sein!
Nimm ab die Maske, die du trägst.
Den Schleier laß ihn sinken,
Daß wir Gewißheit trinken,
Ob du uns segnest oder schlägst.
Leonhard Tauscher.
Mit dem am 17. Dezember in Stuttgart im 75. Lebens-
jahr verstorbenen Genossen Leonhard Täuscher ist eines der
wenigen parteimi glieder dahingegangen, die seit den Grün-
dungsjahren der deutschen Sozialdemokratie bi; zum heutigen
Tage in ihren vordersten Reihen gestanden und für sie ge-
kämpft haben. Km 15. Juni 1840 in Regensburg geboren,
wurde Tauscher Buchdrucker und ließ sich nach der wander-
zeit in Augsburg dauernd nieder. Die zwingende Logik der
Lassalleschen Zweitschriften zog auch ihn in ihren Bann und
so wurde cr bald dcr Bevollmächtigte des Allgemeinen deut-
schen Arbeitervereins in Augsb.rg. von da ab nahm cr stets
eine führende Stellung in der politischen und wirtschaftlichen
Arbeiterbewegung Süddertschlands ein und mußte für sein
mannhaftes Auftreten auch mehrfach größcre Freiheitsstrafen
verbüßen. Als das Sozialistengesetz der von Tauscher gclei-
t.ten Druckerei den Lebensfoden unterband ging er nach
Zürich, wo cr in Gemeinschaft mit Ed. Bernstein, Motteler,
Richard Fischer an der Herausgabe des „Sozialdemokrat"
beteiligt war und mit diesen nach der Ausw eisung aus Zürich
1888 nach London übersiedelte. Nach Ablauf des Sozialisten-
gesetzes kehrte Tauscher nach Deutschland zurück und nahm
in Stuttgart seinen Wohnsitz, von 1895 bis 1902 leitete er
dort die „Schwäbische Tagwacht". Seit 1900 gehörte er
dem württembcrgischen Landtag und seit 1906 auch dem
Stuttgarter Gemeinderat an. Beide Mandate hat er bis zu
seinem Tode eifrig und gewissenhaft ausgeübt. Als Politiker
weit über die Grenzen der Partei hinaus geehrt und ge-
achtet, als Mensch und Freund von allen geliebt, die ihn
persönlich kannten, wird sein Andenken in der deutschen
Arbeiterbewegung als Vorbild treuer und uneigennütziger
Pflichterfüllung für alle Zeit fortleben.
Es fragten laut am ersten Tag
Zweifel und Zuversicht,
Doch tief im Schleier barg das Jahr
Sein fremdes Angesicht.
Und hob es mählig nur empor
In fliehenden Sekunden:
Erst mit dem Tod der Stunden
Sein Antlitz trat hervor.
Und nun, da wir es vor uns sehn
Entschleiert, unverhüllt,
Starrt un§ aus wilden Augen an
Ein blutigbleiches Bild.
An seinem Fuße hart und schwer
Liegt, vor der Zeit gestorben,
Zertreten und verdorben
Der bunten Wünsche totes Heer.
Abschied.
Eine Erinnerung aus dem Deutsch.Französischen Krieg.
Von A. L.
Es war am Weihnachtsabend des Jahres
1870. In dem prunkenden, prachtvollen Schloß
der Herrscher Frankreichs zu Versailles war
ei» großes Lazaret für verwundete delltsche
Krieger eingerichtet. Hier lag auch ein preußi-
scher Landwehrmann auf seinem Schmerzens-
lager.
Auf Vorposten bei Meudon hatte ihm vor
zivei Tagen ein Granatsplitter den Arm
aus der Schulter gerissen. Als der schwerver-
wundete Mann auf seiner Lagerstätte unter-
gebracht wurde, hatte der anivesende Doktor
ernst dazu geschaut und bedenklich den Kopf
dazu geschüttelt. Auch der wunde Soldat wußte,
daß es ihm ans Leben ging, und cr mochte
doch so gern leben, und wäre es nur, um noch
einmal zu Hause mit den Seinigen Weihnacht
zu halten.
Weihnachten zu Hause! Dahin waren rast-
los die Sehnsuchtsgedanken gerichtet, die fieber-
glühenden Augen irrten suchend durch das
Zimmer und die Lippen flüsterten: Anna —
liebe . Anna — fröhliche, gesegnete Weilst
nachten!"
Ängstlich suchte die Hand auf der Bettdecke
umher. Bald ergriff er das schwarze Eiserne
Kreuz, das seit heute früh dort lag, bald
knisterte ein Papier zwischen den Fingern.
„Lesen — lesen — meinen Weihnachtsbrief!"
stöhnte der todkranke Kämpfer. Und die pfle-
gende Schwester, die mit Geduld und Aus-
dauer an seinem Schmerzenslager weilte, wurde
nicht müde, den Brief von neuem vorzulese».
Es war die einzige und letzte Erquickung eines
Sterbenden.
And hinter ihm, das Haupt gebeugt,
Steht schon das neue Zahr,
Bon Wünschen wiederum umschwirrt,
Wie es das alte war.
Sie fordern Frieden, Leben, Sieg!
And: werde uns Befreier!...
Es trägt denselben Schleier
And schweigt wie einst das andre schwieg.
Mir kränzten ihm die Pforte nicht,
Das jetzt zum Leben drängt;
Wir sehen einen harten Fuß
Auf rauhe Bahn gelenkt.
Da will uns nur ein Wunsch gedeihen
Im Leben der Gewalten:
O mögest du vom alten
Jahr kein Zwillingsbruder sein! P°n.
„Liebstes Väterchen! Gestern ist bei uns ein
Brüderchen angekommen, und es schreit sehr.
Mama ist ganz weiß im Gesicht und Brüderchen
sehr rot. Mama liegt im Belt und ich bin gestern
Schlitten gefahren. Komm doch bald wieder
nach Hause! Wir bitten jeden Tag und jeden
Morgen darum, daß dich keine Kugel trifft und
daß du uns viel Hübsches ans Paris milbringst.
Wir schicken dir auch einen Tannenzweig von
unserem Baum und drei Weihnachtslichtlein
daran. Die zünde an n»d iß vergnügt den
Pfefferkuchen, den ich Dir in den Brief lege.
Sei auch nicht böse, ich habe mir ein ganz
kleines Stückchen abgebisse». Weiter weiß ich
Dir nichts Neues zu schreiben. Auf jeder
Ecke des Briefes ist ein süßer Kuß für dich!
Einer von mir, einer von Mama, einer von
unserer Küchenkathrine, die mir bei diesem
Briefe hilft, und einer vom Brüderchen, das
noch keinen Namen hat. Dein lieber Franz."
Es sind große, steife Kinderbuchstaben, und
darunter stehen von einer zitternden Hand
einige Zeilen, in welchen ein seliges Mutter-
herz - aber noch mehr ein seliges Frauenhe.z
ihr Verlangen und Bangen ansspricht.
„Anzünden — Tannenbaum — Weihnachts-
licht," flüsterte der Kranke. Die Schwester zün-
dete die drei Weihnachtslichtchen an und hielt
den funkelnden grünen Zweig i» der Hand
über das Bett. Wie leuchteten da des Tod-
kranken Augen! Welch ein glückliches Lächeln
umspielte da seine Lippen!
„Fröhliche Weihnachten, Anna! — Gesegnete
Weihnacht mein Kind — meine Kinder! Tan-
nenduft — Weihnachtslust — alles gut-."
Die Lichtchen waren sacht niedergebrannt,
einige glinnnende Tannennadeln knisterten und
dufteten — und der brave Landwehrmann hatte
seinen Lebenskampf ausgekämpft. .. .
Ein Schleier sank ... Nackt steht vor
Was dichtverhüllt einst war, suns,
Was einst zu uns geheimnisvoll
Gekommen ist: ein Jahr.
Ihm jauchzten Millionen zu
Mit hoffnungsheißem Worte:
Sie kränzten ihm die Pforte
Und legten manchen Wunsch dazu.
Es reckten Arme sich empor,
Und qualvoll dumpfe Pein
Schrie flehend ihm ins taube Ohr:
Du sollst Erlöser sein!
Nimm ab die Maske, die du trägst.
Den Schleier laß ihn sinken,
Daß wir Gewißheit trinken,
Ob du uns segnest oder schlägst.
Leonhard Tauscher.
Mit dem am 17. Dezember in Stuttgart im 75. Lebens-
jahr verstorbenen Genossen Leonhard Täuscher ist eines der
wenigen parteimi glieder dahingegangen, die seit den Grün-
dungsjahren der deutschen Sozialdemokratie bi; zum heutigen
Tage in ihren vordersten Reihen gestanden und für sie ge-
kämpft haben. Km 15. Juni 1840 in Regensburg geboren,
wurde Tauscher Buchdrucker und ließ sich nach der wander-
zeit in Augsburg dauernd nieder. Die zwingende Logik der
Lassalleschen Zweitschriften zog auch ihn in ihren Bann und
so wurde cr bald dcr Bevollmächtigte des Allgemeinen deut-
schen Arbeitervereins in Augsb.rg. von da ab nahm cr stets
eine führende Stellung in der politischen und wirtschaftlichen
Arbeiterbewegung Süddertschlands ein und mußte für sein
mannhaftes Auftreten auch mehrfach größcre Freiheitsstrafen
verbüßen. Als das Sozialistengesetz der von Tauscher gclei-
t.ten Druckerei den Lebensfoden unterband ging er nach
Zürich, wo cr in Gemeinschaft mit Ed. Bernstein, Motteler,
Richard Fischer an der Herausgabe des „Sozialdemokrat"
beteiligt war und mit diesen nach der Ausw eisung aus Zürich
1888 nach London übersiedelte. Nach Ablauf des Sozialisten-
gesetzes kehrte Tauscher nach Deutschland zurück und nahm
in Stuttgart seinen Wohnsitz, von 1895 bis 1902 leitete er
dort die „Schwäbische Tagwacht". Seit 1900 gehörte er
dem württembcrgischen Landtag und seit 1906 auch dem
Stuttgarter Gemeinderat an. Beide Mandate hat er bis zu
seinem Tode eifrig und gewissenhaft ausgeübt. Als Politiker
weit über die Grenzen der Partei hinaus geehrt und ge-
achtet, als Mensch und Freund von allen geliebt, die ihn
persönlich kannten, wird sein Andenken in der deutschen
Arbeiterbewegung als Vorbild treuer und uneigennütziger
Pflichterfüllung für alle Zeit fortleben.
Es fragten laut am ersten Tag
Zweifel und Zuversicht,
Doch tief im Schleier barg das Jahr
Sein fremdes Angesicht.
Und hob es mählig nur empor
In fliehenden Sekunden:
Erst mit dem Tod der Stunden
Sein Antlitz trat hervor.
Und nun, da wir es vor uns sehn
Entschleiert, unverhüllt,
Starrt un§ aus wilden Augen an
Ein blutigbleiches Bild.
An seinem Fuße hart und schwer
Liegt, vor der Zeit gestorben,
Zertreten und verdorben
Der bunten Wünsche totes Heer.
Abschied.
Eine Erinnerung aus dem Deutsch.Französischen Krieg.
Von A. L.
Es war am Weihnachtsabend des Jahres
1870. In dem prunkenden, prachtvollen Schloß
der Herrscher Frankreichs zu Versailles war
ei» großes Lazaret für verwundete delltsche
Krieger eingerichtet. Hier lag auch ein preußi-
scher Landwehrmann auf seinem Schmerzens-
lager.
Auf Vorposten bei Meudon hatte ihm vor
zivei Tagen ein Granatsplitter den Arm
aus der Schulter gerissen. Als der schwerver-
wundete Mann auf seiner Lagerstätte unter-
gebracht wurde, hatte der anivesende Doktor
ernst dazu geschaut und bedenklich den Kopf
dazu geschüttelt. Auch der wunde Soldat wußte,
daß es ihm ans Leben ging, und cr mochte
doch so gern leben, und wäre es nur, um noch
einmal zu Hause mit den Seinigen Weihnacht
zu halten.
Weihnachten zu Hause! Dahin waren rast-
los die Sehnsuchtsgedanken gerichtet, die fieber-
glühenden Augen irrten suchend durch das
Zimmer und die Lippen flüsterten: Anna —
liebe . Anna — fröhliche, gesegnete Weilst
nachten!"
Ängstlich suchte die Hand auf der Bettdecke
umher. Bald ergriff er das schwarze Eiserne
Kreuz, das seit heute früh dort lag, bald
knisterte ein Papier zwischen den Fingern.
„Lesen — lesen — meinen Weihnachtsbrief!"
stöhnte der todkranke Kämpfer. Und die pfle-
gende Schwester, die mit Geduld und Aus-
dauer an seinem Schmerzenslager weilte, wurde
nicht müde, den Brief von neuem vorzulese».
Es war die einzige und letzte Erquickung eines
Sterbenden.
And hinter ihm, das Haupt gebeugt,
Steht schon das neue Zahr,
Bon Wünschen wiederum umschwirrt,
Wie es das alte war.
Sie fordern Frieden, Leben, Sieg!
And: werde uns Befreier!...
Es trägt denselben Schleier
And schweigt wie einst das andre schwieg.
Mir kränzten ihm die Pforte nicht,
Das jetzt zum Leben drängt;
Wir sehen einen harten Fuß
Auf rauhe Bahn gelenkt.
Da will uns nur ein Wunsch gedeihen
Im Leben der Gewalten:
O mögest du vom alten
Jahr kein Zwillingsbruder sein! P°n.
„Liebstes Väterchen! Gestern ist bei uns ein
Brüderchen angekommen, und es schreit sehr.
Mama ist ganz weiß im Gesicht und Brüderchen
sehr rot. Mama liegt im Belt und ich bin gestern
Schlitten gefahren. Komm doch bald wieder
nach Hause! Wir bitten jeden Tag und jeden
Morgen darum, daß dich keine Kugel trifft und
daß du uns viel Hübsches ans Paris milbringst.
Wir schicken dir auch einen Tannenzweig von
unserem Baum und drei Weihnachtslichtlein
daran. Die zünde an n»d iß vergnügt den
Pfefferkuchen, den ich Dir in den Brief lege.
Sei auch nicht böse, ich habe mir ein ganz
kleines Stückchen abgebisse». Weiter weiß ich
Dir nichts Neues zu schreiben. Auf jeder
Ecke des Briefes ist ein süßer Kuß für dich!
Einer von mir, einer von Mama, einer von
unserer Küchenkathrine, die mir bei diesem
Briefe hilft, und einer vom Brüderchen, das
noch keinen Namen hat. Dein lieber Franz."
Es sind große, steife Kinderbuchstaben, und
darunter stehen von einer zitternden Hand
einige Zeilen, in welchen ein seliges Mutter-
herz - aber noch mehr ein seliges Frauenhe.z
ihr Verlangen und Bangen ansspricht.
„Anzünden — Tannenbaum — Weihnachts-
licht," flüsterte der Kranke. Die Schwester zün-
dete die drei Weihnachtslichtchen an und hielt
den funkelnden grünen Zweig i» der Hand
über das Bett. Wie leuchteten da des Tod-
kranken Augen! Welch ein glückliches Lächeln
umspielte da seine Lippen!
„Fröhliche Weihnachten, Anna! — Gesegnete
Weihnacht mein Kind — meine Kinder! Tan-
nenduft — Weihnachtslust — alles gut-."
Die Lichtchen waren sacht niedergebrannt,
einige glinnnende Tannennadeln knisterten und
dufteten — und der brave Landwehrmann hatte
seinen Lebenskampf ausgekämpft. .. .