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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 32.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.8259#0024
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— 8580

Das Recht in Rußland.

Nach einer russische» Legende.

Einmal kam durch ein Versehen ein eigen-
tümliches Individuum nach Rufiland, es hieß:
das Recht. Wie es dahin kam, vermag ich
euch nicht zu erklären. Einen Geleitbrief hatte
es nicht und es verirrte sich in der verschneiten
Stadt: Aber durch einen glücklichen Zufall
traf es einen Polizeimann. „Weißt dn nicht,"
fragte es ihn, „wer sich meiner annehine» kann?"

„Wer bist du?"

„Das Recht."

„Hast dir einen Paß?"

„Nein."

„Ich verhafte dich
wegen Vagabondage!

Marsch mit dir auf die
Wachlstube," schrie der
Polizisterbost mit) wollte
es beim Arm fassen. Ta
aber das Recht ein ab-
strakter Begriff ist, griff
er in die Luft und wäre
fast umgefalle». „Ver-
fluchtes Recht," schinip, te
er laut. „Übrigens — es
ist möglich, daß es nur
der Wutk») war," er-
gänzte er, sich selbst be-
sänftigend. „Teuer ist er,
seit wir das Monopol
haben, und schwach zum
Erbarmen, und doch
schmeißt er einen um.

Eh was, ich geh' noch
auf einen Schluck-"

Indessen irrte das
Recht iveiter. Ein Haus
in der Straße stand offen
und Lichter strahlten
darin. „Ich werde ei»-
treten," dachte dasRecht.

Es schlüpfte ins Haus
und schlich sich bis in
ein Gemach, in dem der
Orterichter mit reichen
Kaufleuten, die eben bei
ihm einen verdächtigen
Prozeß gewonnen hätten,

Karten spielte.

Der Richter hatte schon
einen Haufen Gold ge-
wonnen, als er bemerlte,
das; jemand an der Tür
stand. In der Meinung, daß es ein Klient
sei, strich er das gewonnene Geld in seine
Tasche und trat an das Recht heran: „Mit
wem habe ich das Vergnügen?"

„Ich bin das Recht."

„Ist nicht nötig, ist nicht nötig," schrie der
Richter erregt. „Wir haben bereits eines hier."

„Das ist blind," sagte das Recht, „ich aber
kann sehen!"

„Nein, nein! Lakai, führe es hinaus!"

Der Lakai, lief herbei und schaute mit auf-
gerissenen Augen umher. Dann erfaßte er das
Taburett, das in der Ecke des Gemaches stand,
und trug es hinaus. Die Kaufleute lachten.

„Hat der Richter heute wieder eine Menge
.Kognak getrunken!" brummte der Diener hinter

der Türe für sich. „Was für ein glänzendes
Leben führen doch die großen Herren," er-
gänzte er und streckte sich im Vorzimnier ans
die Bank aus.

Das Recht irrte die ganze Nacht umher. Tags
darauf war des Zaren Geburtstag. Soldaten
standen auf dem Exerzierplatz und vor ihnen
ritt ein General auf einem Pferd. „Der wird
sich sicher meiner annehmen," sagte das Recht
zu sich und schaute ehrfurchtsvoll auf die gol-
denen Epauletten und den silbergrauen Bart.
Es flog also zum General und klopfte ihm auf

Der Feldpostbrief.

„Sei still, Lauschen, Mutter schreibt an Vater!"

die Achsel. Der Greis drehte sich jäh um und
sagte streng: „Was ist das für eine Vertrau-
lichkeit? Wer bist du?"

„Euer Hoheit — ich bin das Recht!"

„Was?" rief der General. „Na warte! Die
erste Kompagnie, scharfe Patronen, ladet! Die
erste Kompagnie, legt das Gewehr an! Die
erste Kompagnie — Feuer!"

Die Soldaten schossen. Ein Glück wiederum
für das Recht, daß es ein abstrakter Begriff
ist, sonst wäre es ivie ein Sieb durchlöchert
gewesen. So aber verschwand es so schnell wie
möglich vom Exerzierplatz.

Die Soldaten kicherten im geheimen und
die Offiziere schüttelten bedenklich die Köpfe:
„Was mag denn geschehen sein, daß seine

Hoheit an des Zaren Geburtstag befiehlt,
scharf zu schießen? Vielleicht eine Revolution?"

Aber der Adjutant des Generals erklärte
alles: „Gestern hat unser Alter bei der Chan-
sonette viel Sekt getrunken, davon wird'S
fein."

Das Recht flog bis nach Petersburg. Vor
einem großen Palais machte eS Halt. „Wessen
Palais ist das", fragte es einen Vorüber-
gehenden.

„Des Ministers", antwortete der Passant.
„Ich danke", erwiderte das Recht und war
sehr erfreut. „Hier wird
es mirsicher gut ergehen."
Es trat ein und kam b>S
zum Minister. In dem
warm geheizte» Geuiäch
mit Teppiche» auf dein
Fußboden saß im Fau-
teuil ein krankes, ausgc-
n: e r g e l t e s Mein n ch e u; u i t
einem böswilligen Lä-
cheln auf dem Gesicht.

„Was gibt's?" sag e
der Minister und setzte
eilig sein Pinccnez auf.
„Ich bi» da, das Recht."
Des Ministers Miene
verfinsterte sich. „Schon
ivieder diese Halluzina-
tionen", sagte er und
klingelte denr Kammer-
diener. „Mischka, ich habe
wieder Halluzinationen,
hast du noch Brom?"

„Zu Dienste»,jawohl",
sagte Mischka.

„Bring es mir schnell",
sagte niedergeschlagen
der Minister. „Ich habe
eine Ahnung, daß etwas
vorgeht. Es wird viel-
leicht nötig sein, wieder
ei» paar zu hängen."

Mischka ging hinaus.
Brom hatte er nicht und
so zertrat er ein Stück
Zucker und löste es in
einem Glase Wasser auf.
Der Minister trank es
aus. „Merci", sagte er,
„jetzt ist mir leichter."

Das Recht war inzwi-
schen schon entflohen.

Es flog nach Zarskoje Selo und wand sich
durch einen Kordon von Wachen, bis es in
das Schlafgemach des Zaren gelangte.

„Ich bin die Gerechtigkeit, ich bin das Recht",
sagte es, als es sah, daß der Zar erschrocken
die Augen weit aufriß.

„Oh, oh, oh", stöhnte der Zar entsetzt.

Auf den Korridoren wurde es laut, Diener,
Höflinge und Offiziere liefen herbei. Das Recht
sah eine Weile zu, wie sie ihn beschwichtigten.
Dann machte es eine verächtliche Handbewe--
gung und floh aus dem Palast hinaus auf die
Straße, aus der Stadt hinaus auf die weite,
weite Ebene jenseits der Grenze Rußlands.

Und nie mehr ward das Recht im großen
Zarenreiche gesehen.
 
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