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Totenklage.
Noch lag das Leben,
Ein sonnig Land,
Vor deinen Augen,
Als es entschwand.
Noch war dein Streben
So weit vom Ziel,
Als schon der Schwinge
Die straft entfiel.
O Tod, du grimmer.
Warum schickst du
Auch frische Knospen
Zur ew'gen Ruh?
Warum der Liebe
Schaffst du solch' Leid,
And schneidest Ähren,
Eh's Erntezeit? Robert Seidel.
Dunkle Tage.
Skizze aus dem Osten.
I.
Felix Valtinat, der Barbier des kleinen
ostpreußischen Grenzstädtchens, erwachte von
einem Faustschlag, der gegen den Laden seines
Schlafzimmers geführt wurde.
Seine Frau schrie auf.
„Die Russen plündern!"
Valtinat fuhr schreckensbleich empor.
Die kleine russische Kavallerieabteilung, die
seit drei Tagen das Städtchen beherrschte,
hatte ihnen bisher schon Angst und Schrecken
genug eingejagt.
Aber es ivar nicht viel Zeit zum Träumen.
Ein ziveiter Schlag gegen den Laden — dies-
mal schien er mit dem Kolben geführt zu sein —
machte allein weiteren Schwanken ein Ende.
Valtinat stürzte ans Fenster und öffnete den
Laden. Draußen stand ein Hauptmann der
Russen, begleitet von zweien seiner Leute.
Zitternd fuhr Valtinat in die Kleider und
öffnete die Türe.
„Rasieren!" befahl der Offizier und, auf
seine Begleiter deutend, setzte er hinzu: „Bei
dem geringsten Schnitt und dem kleinsten Riß
ivird dich Lanze treffen."
Dies ivar wenig geeignet, die Stimmung
des Barbiers zu erheitern.
Aber es gab kein Ausweichen.
Er holte sein Rasierbecken und setzte Wasser
auf die Gasflamme.
„Hast du Furcht gehabt?"
Valtinat bejahte zögernd.
„Brauchst du nicht", sagte der Russe gnädig.
„Geschieht euch nichts. Ihr seid jetzt Russen
und bleibt Russen, und darum geschieht euch
nichts, so lange ihr gehorsam seid, ihrPruski."
Der Barbier begann zu rasieren. Seine sonst
so ruhige Hand zitterte und vor seinen Augen
flimmerte es: das machten die beiden Lanzen-
spitzen der Kosaken, die andauernd auf ihn
gerichtet waren.
Valtinat war gerade mit der einen Gesichts-
Hälfte fertig geworden und ivollte zu der schwie-
rigen Kinnpartie übergehen, als sich draußen
ein wildes Schreie» und andauerndes Schießen
erhob. Der Hauptmann sprang auf und eilte
hinaus, mit dem Seifenschaum auf der linken
Backe und dem Kinn. Trotz deS Unheimlichen,
Gefährlichen der Situation mußte der Barbier
bei dem grotesken Anblick lachen.
Und nun sah er auch den Grund derAuf-
regung: ein Aroplan, den man deutlich an
seinem Kreuz auf den Tragflächen als Deut-
schen erkannte, surrte über der Stadt und
entfernte sich gleich wieder.
Die Russen waren sichtlich nervös durch den
feindlichen Flieger geivorden. Offenbar glaubten
sie die Deutschen nahe. Jedenfalls stieg gleich
darauf der Hauptmann zu Pferde und sprengte
mit seinem Trupp davon.
II.
Am Abend dieses Tages war der Himmel
rot vom Schein der brennenden Dörfer und
Gehöfte ringsherum. Es war nicht daran zu
zweifeln, daß das gleiche Schicksal der Stadt
blühen würde, wenn die Russen wiederkehrten.
Es kamen Flüchtlinge aus den Dörfern und
erzählten von den Greueltaten, von Raub,
Mord und Plünderung.
Noch in der Nacht packte der Barbier sein
Notwendigstes in ein Bündel. Am frühen
Morgen begann die Flucht.
Es war ein langer Zug. Fast alle, die in
der Stadt geblieben waren, und die Flücht-
linge der Nachbarschaft zogen mit Sack und
Pack dahin. Manche schoben einen beladenen
Kinderivagen vor sich her. Die meisten trugen
ein kleines Bündel. Jedes Alter war vertreten.
Greise, die man noch gestern im Lehnstuhl sitzen
gesehen hatte, gingen keuchend des Wegs, um
ihren Lebensabend an fremder Stätte zu er-
leben. Kinder, noch müde von der kurzen Nacht-
ruhe, riefen angstvoll nach ihren Eltern und
Geschivistern. Dazivischen sprangen Hunde mit
lautem Gebell.
Der Morgen ivar herrlich. Die Vögel sangen
noch ivie im Frieden. Auf Blättern und Blicken
lagen Tautropfen, blinkend wie Juwelen.
Aber heute hatte keiner Sinn für die Schön-
heit und den Frieden der Natur: der Kontrast
des von fernher herüberdröhnenden Kanonen-
donners war so groß, daß sie alle ihre Augen
davor schlossen.
Sie wagten nicht auf den Chausseen zu
wandern, sondern gingen durch Wälder und
über Moorstrecken, immer in Furcht, von
Kosakenpatrouillen überrascht zu werden.
Als sich der ganze Zug auf einem.Fe.de
sammelte, pfiff etwas in der Luft und gleich
darauf wieder und wieder. Anfangs wußte es
keiner zu deuten. Als aber eine Kugel dicht
an Baltinats Kopf vorbei in einen Baum schlug,
mußten sie: sie waren in die Feuerlinie der
beiderseitigen Vorpostcn geraten.
Die Frauen und Kinder schrieen und wein-
ten erregt. Zumeist auf allen Vieren kriechend
ging es dann vorwärts. Denn man mußte die
Brücke erreichen, um sich auf der anderen Seite
des Flusses in Sicherheit zu bringen.
Aber als sie an der Brücke anlangten, ragten
nur die ersten Brückenbogen in die Lust, die
anderen waren verschwunden: die Brücke ivar
gesprengt. Und doch ivar keine Zeit zu verlieren:
das Schießen in ihrem Rücken kam näher und
näher. Die Russen rückten anscheinend vor.
Die Männer stiegen in den Fluß und pro-
bierten eine flachere, seichtere Stelle aus. Auf
dieser Furt überschritten sie den Fluß — bis
an die Brust im kalten Wasser —, alle glühend-
heiß von der langen, eiligen Wanderung.
Dann zogen sie iveiter.
Nur der Barbier und seine Frau nicht. Die
riesigen Anstrengungen ivaren zu viel für die
Frau geivesen. Sie lag hilflos am Boden und
fühlte die Stunde der Mutterschaft sich ver-
früht nahen. Die anderen Frauen waren schon
weit voraus und wagten nicht mehr zurück-
zukehren. So kniete Valtinat viele Stunden bei
seinem Weibe, ohne ihr helfen zu können.
Die Nacht zog herauf und Reiterschwärme
trabten über die Chaussee. Man hörte deutlich
das Klappern der Hufe. Dazivischen knarrten
Wagen. Waren es Feinde, ivaren es Deutsche?
Lange Zeit wagte sich Valtinat nicht aus
dem Gebüsch heraus, in das er sich mit seiner
Frau zurückgezogen hatte.
Als er aber das Wimmern der leidenden
Frau nicht mehr ertragen konnte, verließ er
(Schluß aus S. 8.">94.)
Totenklage.
Noch lag das Leben,
Ein sonnig Land,
Vor deinen Augen,
Als es entschwand.
Noch war dein Streben
So weit vom Ziel,
Als schon der Schwinge
Die straft entfiel.
O Tod, du grimmer.
Warum schickst du
Auch frische Knospen
Zur ew'gen Ruh?
Warum der Liebe
Schaffst du solch' Leid,
And schneidest Ähren,
Eh's Erntezeit? Robert Seidel.
Dunkle Tage.
Skizze aus dem Osten.
I.
Felix Valtinat, der Barbier des kleinen
ostpreußischen Grenzstädtchens, erwachte von
einem Faustschlag, der gegen den Laden seines
Schlafzimmers geführt wurde.
Seine Frau schrie auf.
„Die Russen plündern!"
Valtinat fuhr schreckensbleich empor.
Die kleine russische Kavallerieabteilung, die
seit drei Tagen das Städtchen beherrschte,
hatte ihnen bisher schon Angst und Schrecken
genug eingejagt.
Aber es ivar nicht viel Zeit zum Träumen.
Ein ziveiter Schlag gegen den Laden — dies-
mal schien er mit dem Kolben geführt zu sein —
machte allein weiteren Schwanken ein Ende.
Valtinat stürzte ans Fenster und öffnete den
Laden. Draußen stand ein Hauptmann der
Russen, begleitet von zweien seiner Leute.
Zitternd fuhr Valtinat in die Kleider und
öffnete die Türe.
„Rasieren!" befahl der Offizier und, auf
seine Begleiter deutend, setzte er hinzu: „Bei
dem geringsten Schnitt und dem kleinsten Riß
ivird dich Lanze treffen."
Dies ivar wenig geeignet, die Stimmung
des Barbiers zu erheitern.
Aber es gab kein Ausweichen.
Er holte sein Rasierbecken und setzte Wasser
auf die Gasflamme.
„Hast du Furcht gehabt?"
Valtinat bejahte zögernd.
„Brauchst du nicht", sagte der Russe gnädig.
„Geschieht euch nichts. Ihr seid jetzt Russen
und bleibt Russen, und darum geschieht euch
nichts, so lange ihr gehorsam seid, ihrPruski."
Der Barbier begann zu rasieren. Seine sonst
so ruhige Hand zitterte und vor seinen Augen
flimmerte es: das machten die beiden Lanzen-
spitzen der Kosaken, die andauernd auf ihn
gerichtet waren.
Valtinat war gerade mit der einen Gesichts-
Hälfte fertig geworden und ivollte zu der schwie-
rigen Kinnpartie übergehen, als sich draußen
ein wildes Schreie» und andauerndes Schießen
erhob. Der Hauptmann sprang auf und eilte
hinaus, mit dem Seifenschaum auf der linken
Backe und dem Kinn. Trotz deS Unheimlichen,
Gefährlichen der Situation mußte der Barbier
bei dem grotesken Anblick lachen.
Und nun sah er auch den Grund derAuf-
regung: ein Aroplan, den man deutlich an
seinem Kreuz auf den Tragflächen als Deut-
schen erkannte, surrte über der Stadt und
entfernte sich gleich wieder.
Die Russen waren sichtlich nervös durch den
feindlichen Flieger geivorden. Offenbar glaubten
sie die Deutschen nahe. Jedenfalls stieg gleich
darauf der Hauptmann zu Pferde und sprengte
mit seinem Trupp davon.
II.
Am Abend dieses Tages war der Himmel
rot vom Schein der brennenden Dörfer und
Gehöfte ringsherum. Es war nicht daran zu
zweifeln, daß das gleiche Schicksal der Stadt
blühen würde, wenn die Russen wiederkehrten.
Es kamen Flüchtlinge aus den Dörfern und
erzählten von den Greueltaten, von Raub,
Mord und Plünderung.
Noch in der Nacht packte der Barbier sein
Notwendigstes in ein Bündel. Am frühen
Morgen begann die Flucht.
Es war ein langer Zug. Fast alle, die in
der Stadt geblieben waren, und die Flücht-
linge der Nachbarschaft zogen mit Sack und
Pack dahin. Manche schoben einen beladenen
Kinderivagen vor sich her. Die meisten trugen
ein kleines Bündel. Jedes Alter war vertreten.
Greise, die man noch gestern im Lehnstuhl sitzen
gesehen hatte, gingen keuchend des Wegs, um
ihren Lebensabend an fremder Stätte zu er-
leben. Kinder, noch müde von der kurzen Nacht-
ruhe, riefen angstvoll nach ihren Eltern und
Geschivistern. Dazivischen sprangen Hunde mit
lautem Gebell.
Der Morgen ivar herrlich. Die Vögel sangen
noch ivie im Frieden. Auf Blättern und Blicken
lagen Tautropfen, blinkend wie Juwelen.
Aber heute hatte keiner Sinn für die Schön-
heit und den Frieden der Natur: der Kontrast
des von fernher herüberdröhnenden Kanonen-
donners war so groß, daß sie alle ihre Augen
davor schlossen.
Sie wagten nicht auf den Chausseen zu
wandern, sondern gingen durch Wälder und
über Moorstrecken, immer in Furcht, von
Kosakenpatrouillen überrascht zu werden.
Als sich der ganze Zug auf einem.Fe.de
sammelte, pfiff etwas in der Luft und gleich
darauf wieder und wieder. Anfangs wußte es
keiner zu deuten. Als aber eine Kugel dicht
an Baltinats Kopf vorbei in einen Baum schlug,
mußten sie: sie waren in die Feuerlinie der
beiderseitigen Vorpostcn geraten.
Die Frauen und Kinder schrieen und wein-
ten erregt. Zumeist auf allen Vieren kriechend
ging es dann vorwärts. Denn man mußte die
Brücke erreichen, um sich auf der anderen Seite
des Flusses in Sicherheit zu bringen.
Aber als sie an der Brücke anlangten, ragten
nur die ersten Brückenbogen in die Lust, die
anderen waren verschwunden: die Brücke ivar
gesprengt. Und doch ivar keine Zeit zu verlieren:
das Schießen in ihrem Rücken kam näher und
näher. Die Russen rückten anscheinend vor.
Die Männer stiegen in den Fluß und pro-
bierten eine flachere, seichtere Stelle aus. Auf
dieser Furt überschritten sie den Fluß — bis
an die Brust im kalten Wasser —, alle glühend-
heiß von der langen, eiligen Wanderung.
Dann zogen sie iveiter.
Nur der Barbier und seine Frau nicht. Die
riesigen Anstrengungen ivaren zu viel für die
Frau geivesen. Sie lag hilflos am Boden und
fühlte die Stunde der Mutterschaft sich ver-
früht nahen. Die anderen Frauen waren schon
weit voraus und wagten nicht mehr zurück-
zukehren. So kniete Valtinat viele Stunden bei
seinem Weibe, ohne ihr helfen zu können.
Die Nacht zog herauf und Reiterschwärme
trabten über die Chaussee. Man hörte deutlich
das Klappern der Hufe. Dazivischen knarrten
Wagen. Waren es Feinde, ivaren es Deutsche?
Lange Zeit wagte sich Valtinat nicht aus
dem Gebüsch heraus, in das er sich mit seiner
Frau zurückgezogen hatte.
Als er aber das Wimmern der leidenden
Frau nicht mehr ertragen konnte, verließ er
(Schluß aus S. 8.">94.)