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Zeichnung von L. Rudel, Kanonier, im Felde.
Nachtgedanken.
Was ist ein Menschensein?
Ein Augenblick, ein Blitzen.
Ein Traum, ein Sonnenstand.
Ein kurzes Niedersitzen,
Ein wenig Stillestehn.
Ein dünnes Aschenkleid.
Kaum etwas mehr als nichts
Schaum der Vergänglichkeit.
Oskar Wöhrle, Kanonier, im Felde.
O
Das Lied der Mütter.
Von Ernst Preczang.
Trug dich einst mit Schmerzen,
Trug dich einst mit Lust,
Trug dich voller Zuversicht
Unter meinem Lcrzen.
Lille meine Sorgeil
Kreisten nur um dich.
Tag und Nächte waren dein.
Gestern, heute, morgen.
Ließ die Schönheit fliehen.
Gab dir Kraft und Brust,
Bin darüber wohl verwelkt.
Doch du bist gediehen.
In der armen Stube
Ward mein Leben hell.
Ward mein Dasein reich und froh
Nur durch dich, mein Bube.
Schau nun auf die Gassen,
Ob ich dich nicht seh'.
Doch du bist gar lveit von hier.
Und ich bi» verlassen.
Lwrst nicht, wie ich stöhne.
Siehst nicht, wie ich wein',
Weil du kämpfend töten mußt
Andrer Mütter Söhne.
Zwischen Leben und Sterben.
Der siegreiche Gegner hatte sie vom großen
Heerhaufen abgeschnitten. Tagelang ivaren sie
im suinpfigen Gelände umhergeirrt, ohne einen
rettenden Ausweg zu finden. Hunger und Kälte
fraßen an ihren zermürbten Körpern. In regel-
losen, trübseligen Reihen schlich nun der kleine
Trupp durch die naßkalte Nacht und lagerte
schließlich mit müden, zerschlagenen Gliedern
hinter armseligem Gestrüpp ans einer niedrigen
Anhöhe. Die Verzweiflung hockte mitten unter
ihnen und machte sie stumm. Dazwischen stöhnte
wohl einer, vom Schmerze seiner Wunden ge-
quält, aber die meisten verbissen de» Schmerz/
wurden abgestumpft und ganz gefühllos. Mitten
aus dem Haufen erhob sich einer auf seinem
gesnnden Bei», schleppte das angeschossene müh-
sam nach und hinkte einige Schritte int Kreise
umher. Mit fiebernden Augen suchte er daS
Dunkel zu durchschauen, gespannt horchte er
nach allen Windrichtungen. Aber es blieb stille
in dem weiten, öde» Sumpsland, furchtbar
einsam und traurig.
Der einzige Berittene des Trupps war schon
am Morgen ausgeritten, um einen Ausweg aus
der eisernen Umklammerung zu suchen. Uin-
sonst. Mit blutigein Kopf und ohne Pferd kam
er am Abend bei ihnen ivieder an. Der Reiter
sagte kein Wort, hob den Arm nach Osten zu
und die unverwundeten Kameraden stillten ihm
notdürftig das Blut.
Dann krochen sie alle dichter zusammen, da
die Kälte erbarmungslos an ihnen bohrte. Sie
hatten nichts, was sie innerlich hochhielt, selbst
das Wenige an Waffen und Munition, was
noch vorhanden, war unbrauchbar geivorden.
Brotsäcke und Feldflaschen waren so leer ivie
ihre Mägen. Ein ivehrloses Ergeben in das
grausige Schicksal des Krieges überkam die
Verwundeten und die Heilgebliebenen, ein Be-
reitsein zum Sterben lag über dem zerlumpten
Trupp. In diese trübselige, hoffnungslose Stiin-
mung mischte sich der heisere Schrei irgend
eines hungrigen Raubvogels über ihren Köpfen.
Große, plumpe Nachtschatten krochen nm Sumpf-
boden hi», trennten sich da und dort in kleine
Fetzen und ballten sich schließlich zu großen,
schwarze», undurchdringlichen Wänden. BiZ
es droben zivischen den wogenden Wolken-
schiffen lichter ivurde. Dann warf der Mond
sein fahles Licht über die öde Einsamkeit und
die Leute hoben die Köpfe.
Der alte Kosak mit der Kopfwunde mahnte
seine Kameraden znm Aufbruch. Es kam etwas
Bewegung in die Leute. Sie reckten die starren
Glieder, machten sich marschbereit, und ihre
übermenschlich großen Schatten bewegten sich
gespenstig im ruhigen Lichte des Mondes. Der
Alte übernahm die Führung. Da und dort
Zeichnung von L. Rudel, Kanonier, im Felde.
Nachtgedanken.
Was ist ein Menschensein?
Ein Augenblick, ein Blitzen.
Ein Traum, ein Sonnenstand.
Ein kurzes Niedersitzen,
Ein wenig Stillestehn.
Ein dünnes Aschenkleid.
Kaum etwas mehr als nichts
Schaum der Vergänglichkeit.
Oskar Wöhrle, Kanonier, im Felde.
O
Das Lied der Mütter.
Von Ernst Preczang.
Trug dich einst mit Schmerzen,
Trug dich einst mit Lust,
Trug dich voller Zuversicht
Unter meinem Lcrzen.
Lille meine Sorgeil
Kreisten nur um dich.
Tag und Nächte waren dein.
Gestern, heute, morgen.
Ließ die Schönheit fliehen.
Gab dir Kraft und Brust,
Bin darüber wohl verwelkt.
Doch du bist gediehen.
In der armen Stube
Ward mein Leben hell.
Ward mein Dasein reich und froh
Nur durch dich, mein Bube.
Schau nun auf die Gassen,
Ob ich dich nicht seh'.
Doch du bist gar lveit von hier.
Und ich bi» verlassen.
Lwrst nicht, wie ich stöhne.
Siehst nicht, wie ich wein',
Weil du kämpfend töten mußt
Andrer Mütter Söhne.
Zwischen Leben und Sterben.
Der siegreiche Gegner hatte sie vom großen
Heerhaufen abgeschnitten. Tagelang ivaren sie
im suinpfigen Gelände umhergeirrt, ohne einen
rettenden Ausweg zu finden. Hunger und Kälte
fraßen an ihren zermürbten Körpern. In regel-
losen, trübseligen Reihen schlich nun der kleine
Trupp durch die naßkalte Nacht und lagerte
schließlich mit müden, zerschlagenen Gliedern
hinter armseligem Gestrüpp ans einer niedrigen
Anhöhe. Die Verzweiflung hockte mitten unter
ihnen und machte sie stumm. Dazwischen stöhnte
wohl einer, vom Schmerze seiner Wunden ge-
quält, aber die meisten verbissen de» Schmerz/
wurden abgestumpft und ganz gefühllos. Mitten
aus dem Haufen erhob sich einer auf seinem
gesnnden Bei», schleppte das angeschossene müh-
sam nach und hinkte einige Schritte int Kreise
umher. Mit fiebernden Augen suchte er daS
Dunkel zu durchschauen, gespannt horchte er
nach allen Windrichtungen. Aber es blieb stille
in dem weiten, öde» Sumpsland, furchtbar
einsam und traurig.
Der einzige Berittene des Trupps war schon
am Morgen ausgeritten, um einen Ausweg aus
der eisernen Umklammerung zu suchen. Uin-
sonst. Mit blutigein Kopf und ohne Pferd kam
er am Abend bei ihnen ivieder an. Der Reiter
sagte kein Wort, hob den Arm nach Osten zu
und die unverwundeten Kameraden stillten ihm
notdürftig das Blut.
Dann krochen sie alle dichter zusammen, da
die Kälte erbarmungslos an ihnen bohrte. Sie
hatten nichts, was sie innerlich hochhielt, selbst
das Wenige an Waffen und Munition, was
noch vorhanden, war unbrauchbar geivorden.
Brotsäcke und Feldflaschen waren so leer ivie
ihre Mägen. Ein ivehrloses Ergeben in das
grausige Schicksal des Krieges überkam die
Verwundeten und die Heilgebliebenen, ein Be-
reitsein zum Sterben lag über dem zerlumpten
Trupp. In diese trübselige, hoffnungslose Stiin-
mung mischte sich der heisere Schrei irgend
eines hungrigen Raubvogels über ihren Köpfen.
Große, plumpe Nachtschatten krochen nm Sumpf-
boden hi», trennten sich da und dort in kleine
Fetzen und ballten sich schließlich zu großen,
schwarze», undurchdringlichen Wänden. BiZ
es droben zivischen den wogenden Wolken-
schiffen lichter ivurde. Dann warf der Mond
sein fahles Licht über die öde Einsamkeit und
die Leute hoben die Köpfe.
Der alte Kosak mit der Kopfwunde mahnte
seine Kameraden znm Aufbruch. Es kam etwas
Bewegung in die Leute. Sie reckten die starren
Glieder, machten sich marschbereit, und ihre
übermenschlich großen Schatten bewegten sich
gespenstig im ruhigen Lichte des Mondes. Der
Alte übernahm die Führung. Da und dort