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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 32.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.8259#0070
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8626

Viele Arme breite» sich sehnsüchtig aus
Leimathin, harrende» Seelen entgegen,
Viele Sinne wandern zu eurem Laus;
Viele Augen weinen auf einsamen Wegen.
Viele Lerze» tragen ein schweres Gewicht;
Jeder Tag ist ihnen düster verhangen;

Es quält und brennt ein heißes Verlangen,
Dürstend, lechzend »ach Liebe und Licht.

Die tote Stimme.

Von Ernst Preczang.

„Hör mal, Magda", sagte die Mutter und
faltete erstaunt die Hände über dem Leib, „ich
glaube wahrhaftig, du willst mit der Ab-
iväsche schon wieder ans den Hof ziehen!"

Die Tochter stellte die Küchenbank vor die
Hoftür und lachte: „Warum denn nicht, Mut-
ter? Es wird Frühling ..."

„Frühling? So? Na, dann hast bit deinen
eigenen Kalender. Nach meinem sind wir erst
im Februar."

„Ja, aber die Sonne scheint so herrlich. Und,
horch mal, da zwitschert ein Vogel..."

„Wahrscheinlich, weil ihm die Seele int
Leibe gefriert. Aber ich kann mir denken: du
willst auch zwitschern. Die Küche ist dir zu
enge. Namentlich, seit Nachbars Oskar ivieder
da ist."

„Der arme Kerl!" Magda errötete leicht
und trug die Wanne mit dem Geschirr hin-
aus. „Glaubst du, daß er noch einmal in den
Krieg muß?"

„Nein." Frau Raschle schüttelte energisch
den Kopf. „Eine Kugel durch den
Arm, eine durch die Lunge..."

„Es soll doch alles geheilt
sein."

„Es heißt ja so. Aber er sieht
mir nicht danach aus."

„Nein ..." Magda sah nach-
denklich vor sich hin. „Meinst
du nicht, daß er sich wieder er-
holen rvird?"

„Wer kann das wissen, Kind."

„Horch mal!" Die Tochter
hob den Zeigefinger. „Er ar-
beitet schon wieder!" Über ihr
Gesicht flog ein freudiger Schein.

Vom Nachbarhofe her klang
das gedämpfte Kreischen einer
Feile.

„Ja." Die Mutter nickte. „Er
steht wahrhaftig schon wieder
am Schraubstock. Aber es ist
nicht seine alte Art. Wie flott
ging das früher. Und nun? Man
hört es heraus, wie er sich an-
streugen muß." Sie zog das
Unischlagetuch fester um die
Schultern und sagte, während
sie ins Haus ging: „Na, hole du
dir meinetwegen den Schnup-
fe»! Ich danke dafür!"

Magda lächelte vor sich hin
und begann das Geschirr zu
spülen. In dem kleinen schat-
tigen Garten, der sich dem

Die Getrennten.

Über der Erde ballt Laß die Faust,

Zorniger Groll verschlingt alles Seite;

Aber tiefinnen im Grunde braust
Warm unsers Blutes klingende Quelle.

Will nach dem andern, der irgendwo harrt
Und ihr sendet sein glühend Begehren ...
Viele Sinne wandern ... und kehren
Einsam zurück in die Gegentvart.

-o-

engen Hofe anschloß, lag noch der Schnee in
kleinen weißen Inseln unter den Bäumen,
aber sie selber stand in voller Sonne, blühend
vor Gesundheit und Kraft.

klnd während sie eifrig die Hände regte,
horchte sie auf das Lärmen und Zwitschcrn
der Vögel, die aufgeregt von Baum zu Baum
schossen und sich in der jungen Sonne bade-
ten; horchte auf das Kreischen der Feile vom
Nachbarhofe her und begann zu singen.

Leise erst, fast unbewußt, dann immer lauter
werdend, bis es klar und frisch den Hof füllte
und über die Mauern und Zäune in die Nach-
barschaft drang.

Sie hörte, wie ein Fenster geöffnet wurde,
und wußte sofort, was für ein Fenster es war.
Es drang ihr heiß aus dein Herzen herauf,
und ihre Stimme zitterte ein wenig, aber dann
wandelte sie sich in ein volltöniges Jubeln.

Und als sie ihr Lied geendet hatte, wartete
sie. Denn nun mußte aus jenem Fenster ein
Singen kommen.

Das war früher, vor dem Kriege stets so
gewesen: ein Wechselgesang von Hof zu Hof.
Und zuweilen sogar ein Duett. Dann fiel in

Sonnenaufgang.

Zeichnung von k). Rudel, Uanonier, im Felde.

Viele Ärmchen strecken sich sehnsüchtig aus;
Viele Lippen stammeln in kindlichem Flehen;
Viel eiserne Lerzen zittern nach Laus
Und Seelen, die lächelnd im Sturme stehen.
Ströme der Sehnsucht durchfluten die Welt:
Wellen, die einander begegnen;

Die sich küssen, umarmen und segnen.

And — doch keine die andere hält. Pan.

ihre helle Stimme der kräftige dunkle Baß
des jungen Schlossers ein. Alle, die es hörten,
lächelten; denn es erinnerte sie an den Früh-
ling ihres Lebens, Auf de» engen, trüben Höfen
hier herum war ja nicht viel vom Frühling
zu spüren; die Mauern waren meist zu hoch,
die Schatten zu tief, und ivas in de» kleinen,
eingeklemmten Gartenstücken gedieh, hatte kaum
Farbe und wenig Duft. Aber wenn die beiden
zuversichtlichen Stimmen erklangen, dann wei-
tete sich die Enge hier, und die Sonne schien
voll und strahlend, und die Blüten und das
magere Grün entfalteten sich zu ihrer natür-
lichen Herrlichkeit. . . .

Nun wartete Magda. Aber das Echo blieb
heute aus. Nur die Arbeit der Feile klang in
langen, mühsamen Strichen herüber.

Magda sang noch ei» ziveites Lied. Auch
dann kam keine Antwort.

Dann verstummte sogar die Feile.

Die Sonne des Vorfrühlings versteckte sich
hinter einer der hohen Mauern; ein breiter
Schatten fiel über den Hof. Die Vögel schwiegen.

Magda hatte ihre Arbeit beendet und trug
sie ins Haus hinein.

„Warum bist du so ernst?"
sagte die Mutter.

„Bin ich das?" Sie versuchte
zu lächeln.

„Natürlich! Du fröstelst ja
auch! Habe ich es dir nicht
gesagt?"

In der Schlosserwerkstatt
wurde ein Fenster geschlossen....

Aber dies Fenster öffnete sich
wieder. Öffnete sich stets, wenn
Magda mit ihrer Arbeit draußen
in der Sonne stand und sang.
Zaghafter als sonst begann sie,
häufiger als früher verfiel sie
auf wehmütige Lieder, aber im
Singen verflog alle Zaghaftig-
keit, und ausdrucksvoller als
je gingen ihre Empfindungen
in den Gesang über.

Sie nahm sich vor, nicht mehr
auf die andere Stimme zu war-
ten. Und wartete doch. Wartete
insgeheim immer wieder. Und
wurde, da sie vergebens war-
tete, ernster von Tag zu Tag.

Eines Tages hörte sie auch
das Schrillen der Feile und
das Offnen des Fensters nicht
mehr.

Da konnte sie nicht wider-
stehen: sie mußte auf eine Bank
klettern und über die Hofmauer
hinwegsehen.
 
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