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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 32.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.8259#0095
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— 8651

sie noch nie getan hatte, sie kaufte sich eine
Zeitung, setzte ihre Hornbrille auf, die sie sich
noch auf ihre alten Tage angeschafft hatte,
da sie kurzsichtig geworden war, und begann
zu lesen, ganz langsam, Wort um Word Sie
suchte und suchte, ob da nichts vom Schorsch
drinnen stände, daß er tot sei oder verwun-
det, zitterte am ganzen Leibe vor Angst,
daß sie es zu lesen bekäme, und dann wie-
der war es ihr, als würde sie selbst darüber
froh sein, wenn sie nur überhaupt wisse, was
mit ihrem Sohne wäre. Aber da stand nichts
von ihm.

Und Tag für Tag wurde ihre Unruhe größer.
Sie konnte es nicht mehr daheim aushalten,
sie konnte nicht mehr arbeiten. Sie ging mit
ganz verstörten Augen von Nachbarin zu Nach-
barin, denn wenn sie zu Hause blieb, klopfte
ihr in einemfort das Herz; sie meinte immer,
die Türe werde aufgehen und jemand werde
ihr die Nachricht bringen, der Schorsch sei tot.
Bei den Nachbarinnen wagte sie gar nichts
mehr zu fragen, aber sie fuhr zusammen, so-
bald jemand vom Krieg zu sprechen begann,
weil sie glaubte, nun
komme das Furchtbare
vom Schorsch.

Alle sahen, wie es mit
ihr war und sagten: „Die
Frau Lechner verliert
ihren Verstand, wenn
nicht bald eine Nachricht
kommt." Und schließlich
waren alle auch der Mei-
nung, daß etwas gesche-
he» müsse, nachdem doch
gar keine Nachricht kam,
und sie behandelten die
Frau Lechner mit viel
größerer Güte als bisher.

Die merkte es wohl
und begriff auch warum
und wäre nun am lieb-
sten gar nicht mehr zu
den Nachbarinnen ge-
gangen, wenn sie es zu
Hause vor Unruhe nur
irgendwie hätte aushal-
ten können.

Eines Tages schielte
ihr die Bäckerin einen
Gugelhopf. Da war sie
sicher, das Ärgste sei ge-
schehen, setzte sich davor
und weinte wie verzwei-
felt. Erst als sie dann
der Bäckerin dankte, sah
sie wohl, daß die gar
nichtsBesondcres wußte,
und faßte wieder ein
wenig Mut.

An diesem selben Abend
stand an den Straßen-
ecken wieder etwas an-
geschlagen. Als auch die
Frau Lechner sich zit-
ternd dazu drängte, sah
sie, es war die Nachricht
von einem Sieg. Wie sie
darauf heimging, sann
sie darüber, daß ihr
Schorsch vielleicht auch

dazu beigetragen habe, und fühlte sich eine
Weile ganz stolz.

Als ihr am Abend aber erzählt wurde, zwei
Häuser weiter habe eine junge Frau ihren
Mann im Kampf verloren, ward der alte
Kummer wieder wach. Sicher war auch der
Schorsch tot, ganz gewiß.

Bon diesem Abend an machte sie ihr schwar-
zes Zeug zurecht. Sie ivollte gar nicht mehr
in buntem Rock auf die Straße. Und mit zit-
ternden Händen ordnete sie ihres Sohnes zu-
rnckgelassene Kleider. Sie streichelte seine Ar-
beitsjoppen, sie suchte in seinen Taschen, weil
jeder Zettel und jeder Bleistift sie jetzt rührte
und ihrem traurigen Herzen ivohl tat. Ihr
war noch so gegenwärtig, wie er nach der
Arbeit in diesen Kleidern zu ihr hereingetrcten
war, voll Leben und Kraft. Hatte er jemals
ein grobes Wort gesagt? Nichts wußte sie
mehr davon, nur daß er ihr Bub war und
daß sie seinen Schritt und sei» Lachen und
seine Stimme nicht mehr hören würde.

So krochen ivieder die Tage vorüber. Da,
cs war in den ersten Tagen des neuen Jahres,

begegnete sie einer alten Frau, die ging zwi-
scheu zivei Soldaten, strahlend, sah bald den
einen an, bald den andern, die beide sicher ihre
Söhne waren.

Da konnte sie es vor Schmerz um ihren
Schorsch, der ihr gestorben war, nicht ein-
mal ertragen, das Gesicht der Nachbarin zu
sehen, zu der sie doch schon unterwegs ge-
wesen, und kehrte wieder um.

Als sie nun aber an ihre Türe kam, fand
sie sie offen — und hatte doch gewiß gemeint,
daß sie sie geschlossen hätte, als sie das Haus
vor einer Stunde verließ — und stieß ängst-
lich die Türe auf und blieb regungslos ans
der Schwelle stehen, stieß einen Schrei ans,
der ihr in der Kehle erstarb: Da am Tische
saß der Schorsch!

„Grüß Gott, Mutter!" Als sei das ganz
natürlich, daß er da saß.

Die Frau wankte an den Tisch, setzte sich,
sah, daß er den rechten Arni in der Binde
trug, nahm seine linke Hand, legte ihre Wange
darauf und begann zu schluchzen — vor Glück,
vor namenloser Freude. Sie strich ihm über
die Haare, als sei er
ivieder der kleine Bub,
der ihr von seinem Bett-
cheu aus winkte — nur
ihr von allen Leuten auf
der Welt — „mein Bub,
mein Bub", schluchzte sie.
Und der Schorsch war
halb erstaunt und halb
gerührt, legte den gesun-
den Arm um ihre Schul-
ter und suchte sie zu be-
ruhigen.

„Mutter, aber Mutter."
„Ach, du weißt ja gar
nicht,was ich alles in mei-
nem alten Kopf hatte,"
sie lächelte unter Tränen,
sie streichelte ihn immer
noch, llnd sie erzählte
ihm von ihrer Angst...

Als sie an diesem
Abend mit dem Schorsch
durch die Straße ging,
da war ihr zumute, als
sei das eine ganz andere
Welt als gestern.

Die Bäckerin sagte zu
ihrem Manne und schüt-
telte den Kopf: „Frau
Lechner schaut aus, als
sei's zwanzig Jahre jün-
ger geworden. Und wenn
man denkt, was der
Schorsch für ein grober
Bursch war. Geb's unser
Herrgott, daß ihn der
Krieg vernünftiggemacht
hat." Sie wußte nicht,
daß der Frau Lechner
auch ein heftiges Wort
vom Schorsch wie eine
Wohltatgeschienenhätte,
von ihrem Schorsch, von
dem sie geglaubt hatte,
nie mehr seine Stimme
zu hören, und der ihr nun
wiedergeschenkt war.

Die Toten.

'Sem OökarWöhrle, Kanonier, im Felde.

In lange», langen Reihe»,

Zu zweien und z» dreien.

So schlafen sie allhier;

So mancher tapfre Streiter,
Infanterist und Reiter,

Matros' n»d Kanonier.

Wie standen sie als Helden,

Aid grell die Hörner gellten.

Als es ins Feuer ging.

Als wie mit Donnerkracheu
Der giere Todesrache»

Der Blutschlacht sie umfing.

Wie scharf es auch gewittert.

Sie standen unerschüttert.

Sie standen treu und brav.

Bis endlich auch ihr Lebe»,

Ihr heißes Männerleben
Die Todcskugel traf.

Run liegen fic in Friede»,

Und alle» ist bcschiede»

Ein Fetzen Ewigkeit;

Denn anö den Grabestrnhe»,
Drin diese Kämpfer ruhen.

Steigt eine neue Zeit,
 
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