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Die tapfere Tante Lydia.
Tante Lydia war in der ganzen Verwandt-
schaft die einzige, die es „zu etwas gebracht
hatte". Sie tat sich auch nicht wenig darauf
zugute, obgleich sie ihren Wohlstand nur dem
kleinen Wörtchen „Ja" vor dem Standesamt
verdankte. Man — und am meisten sie selbst —
rühmte ihre Tapferkeit, ihre Weisheit, ihren
Ordnungs- und Sauberkeitssinn. Sie war in
der Tat, wenn man so sagen darf, der fleisch-
gewordene Staub- und Scheuerlappen. Trotz-
dcin kam es vor, daß in irgendeiner dunkle»
Ecke eine waghalsige Spinne ihr Netz zu weben
begann oder ein unbekümmerter blauer Bruin-
iner seine Zeichnungen ans Bild und Spiegel
setzte. Das war dann schon beinahe ein Drama
in ihrem stillen, geordneten Leben, ei» Drama,
das mit Entsetzen begann und mit Totschlag
endigte.
Seit dem Ableben ihres Mannes hatte Tante
Lydia eben niemand außer ihrer eigene» hoch-
geschätzten Person, um den ihr rühriges Sor-
ge» kreisen konnte. Kinder waren nicht da
und Neffe Franz, das ivar auch so einer, der
diese doch so wohleingerichlete Welt leicht-
sinnigerweise ändern wollte. Sozialdemokralen
konnte Tante Lydia nicht ausstehen. Die wollen
bekanntlich teilen - das Kreisblatt sagte es! —,
aber dazu war Tante Lysia durchaus nicht
geneigt. Vaterlandsliebe halten sie auch nicht,
lind außerdem war einmal ein Maurer mit
Kalkstiefeln über ihren besten Teppich gegangen.
Also Gründe genug! Aber Neffe Franz liest
Tante Lydia reden, lobte ihre Kochkunst, än-
derte jedoch seine Weltanschauung nicht. Das
nannte Tante Lydia Undankbarkeit. Und so
ivar er denn bei ihr in Ungnade gefallen.
Dann kam der Krieg, und Franz mußte als
Reservist ins Feld rücken. Das Bewußtsein,
„auch einen draußen zu haben", erregte einen
gewissen Stolz im Busen der Tante. Außer-
dem machte sie gleich anderen naiven Ceit-
t.-u die urplötzliche Entdeckung, daß auch
Sozialdemokraten ihr Vaterland lieben und
sich als lebendige Schutzmauer vor die Hei-
inat stellen können, um den Einbruch feind-
licher Mächte abzuwehren. Das wandelte
den tantlichen Sinn, rmd sie schickte Liebes-
gaben nach Polen: Zigarren, Strümpfe,
Schokolade, Kniewärmer und viele schöne
Lehren.
Franzbedankte sich und schrieb: „O Tante
Lydia, hier wäre ein Feld für Dich und
Deine Tapferkeit! Die Gänse schlafen am
Ofen, die Schweine unter den Betten, und
die Hühner legen ihre Eier direkt in die
Pfanne. Die Spinnen sind so groß ivie
Spatzen, und die Fliegen leben hier nur
in ganzen Armeekorps zusammen. O wärst
Du hier!"
Ja, freilich. Sie wünschte es auch bei-
nahe; den» ihre Energie war ungebrochen.
Aber wenn sie von dem unerschöpflichen
Segen an Ungeziefer las, dann schüttelte
sie sich und sagte stolz: „Ich, die nicht
mal weist, wie ein Floh aussieht!"
Im Frühjahr hörte sie, daß die Sol-
daten abwechslungsweise Urlaub bekämen.
Da schrieb sie dem Neffen: „Ich habe Dir
Deinen Trotz verziehen. Eltern hast Du nicht
mehr. Ich aber bin Deine Tante und will auch
gern etwas fürs Vaterland tun. Wenn Du
also kommen kannst und willst: mein Haus steht
Dir offen. Nur das macheich zur Bedingung:
Bringe mir keine sechsbeinigen Russen mit!"
Franz antwortete: „Keine Sorge! Wir wer-
den vorher ausgekocht und desinfiziert!"
Im Mai kam er.
Tante Lydia konnte gewisse Herzbeklem-
mungen nur mit Mühe unterdrücken. Aber
sie ließ nichts davon merken, reichte Franz die
Fingerspitzen und deckte den Kaffeetisch in der
guten Stube, ja sie legte zu Ehren des Gastes
zum ersten Male die wunderschöne Decke auf,
die mit dem Abbild des Eisernen Kreuzes be-
stickt war, und Papierservietten dazu, die in
den Ecken gedruckte Lorbeerkränze und die
Aufschrift „Willkommen den Tapferen" trugen.
Sie gab sich liebenswürdig und leutselig
ei» wenig von oben herab, wie das einer wohl-
habenden Tante einem armen Neffen gegen-
über zukommt. Und während sie aßen und
tranken, verbreitete sie sich iiber die strategische
Lage und sagte, daß sie im allgemeinen mit
Hindenburg zufrieden wäre, aber an seiner
Stelle doch einiges anders gemacht hätte. Wor-
auf Franz erwiderte: „Dein Schinken ist vor-
trefflich; du hast ihn gewiß selbst gesalzen!"
Dazu nickte sie und meinte, den Sozialdemo.
traten stehe sie nun nicht mehr so feindlich
gegenüber. Wenn sie nun nur noch das „Tei-
len" abschwören und nicht mehr mit Kalkstic-
feln über gute Teppiche wandern ivollten, dann
könnte ihretwegen jeder denken, was er wolle.
Franz saß ans seinem Lehnstuhl, aß und trank
mit Behagen und schmunzelte zuweilen. Er
hatte die lärmende Musik der Granaten und
Schrapnells gehört, ohne daß ihm das Trommel-
fell geplatzt war, und dachte nun: am Ende
stirbt man auch nicht an einer Tantenrede.
Aus der Dreiverbcmdsküche.
Römische Punschtorte.
Frau Lydia war inzwischen von ihrem Tep-
pich auf den westlichen Kriegsschauplatz ge-
kommen und verbesserte die Maßnahmen des
Großen Generalstabs. Sie verzehrte zu einer
Tasse Kaffee hunderttausend Engländer und
sagte beim letzten Schluck: „Wir dürfen vor
nichts zurückscheuen, vor nichts!"
Darauf machte Franz eine Beivegung. Eine
nur! So, als wolle er sich den Rücken an der
Stuhllehne scheuern. Und nun wurde Tante
Lydia blaß und rief entsetzt: „Franz!"
Der sagte harmlos: „Was denn?"
„Junge, du hast doch nicht — ?!"
Er winkte gelassen: „Höchstens eine!"
„Was? Ist das nicht genug, um das ganze
Haus-"
„Nur keine Aufregung, Tante. Man muß
dem Feind mit Ruhe beikommen."
„Franz! Ich habe zur ausdrücklichen Be-
dingung gemacht, daß —!"
„Ja, ich weiß." Franz blickte seine Tante
tiefsinnig an: „Glaubst du, die Biester kehren
sich an Kontrakte?"
Da schrie Tante Lydia verzweifelt ans: „Das
in meinem Hause! Dagegen muß etwas ge-
schehen! Sofort! Ich laufe zum Drogisten!"
Sie war schon zur Tür hinaus.
Nun saß er da und lachte ausgiebig. Dann
beschloß er, spazieren zu gehen.
Inzwischen kam Frau Lydia mit einer großen
Tüte zurück und bestäubte zunächst den Sessel,
auf dem Franz gesessen hatte. Dann ging sic
in sein Schlafzimmer und wirkte dort mit Eifer,
verhaltener Entrüstung und Insektenpulver.
Als Franz am Abend nach Hause kam, sagte
sie mit bebender Stimme: „Du mußt schon
allein esse». Mir schmeckt es nicht."
„Aber Tante!" Er lachte und wollte reden.
„Kein Wort! Ich weiß, was ich tue!" . . .
Später hörte sie ihn andauernd in seiner
Kammer niesten. Dann schnarchte er.
Da schlich sie mit einem glühenden
Schwefelfaden hinein und zündete dort
etwas an.
Dann setzte sie sich vor die Kammertür
und horchte. Er sollte nicht ersticken. Nein,
das nicht. Aber sie konnte auch nicht mit
einem sechsbeinigen Russen im Hau.se
leben. Keine Nacht!
Am andern Morgen fand Franz seine
Tante schlafend auf dem Stuhl vor der
Tür seiner Kammer. Sie schrak auf: „Bis!
du schon wach?"
„Ja," sagte er mit heiserer Stimme. „Ich
habe einen scheußlichen Schnupfen. Und
die ganze Kammer stinkt nach Schwefel.
Aber was machst du denn hier?"
Da beichtete Tante Lydia. Dann kochte
sie den Morgenkaffee, und während sie
tranken, sagte Franz: „Es ist nur gut,
daß ich gestern abend das Fenster offen
ließ."
„Aber dann wirkt es ja nicht, Franz!"
Franz blickte gar merkwürdig bald si",
bald das Eiserne Kreuz auf der Tischdecke
an: „Wir wollen vor nichts zurückscheuen,
Tante. Wir sind ja tapfer, nicht wahr?...
Übrigens, die Laus ist tot. Um die Wahr-
heit zu sagen: ich glaube, daß sie nie ge-
lebt hat." Pan.
Die tapfere Tante Lydia.
Tante Lydia war in der ganzen Verwandt-
schaft die einzige, die es „zu etwas gebracht
hatte". Sie tat sich auch nicht wenig darauf
zugute, obgleich sie ihren Wohlstand nur dem
kleinen Wörtchen „Ja" vor dem Standesamt
verdankte. Man — und am meisten sie selbst —
rühmte ihre Tapferkeit, ihre Weisheit, ihren
Ordnungs- und Sauberkeitssinn. Sie war in
der Tat, wenn man so sagen darf, der fleisch-
gewordene Staub- und Scheuerlappen. Trotz-
dcin kam es vor, daß in irgendeiner dunkle»
Ecke eine waghalsige Spinne ihr Netz zu weben
begann oder ein unbekümmerter blauer Bruin-
iner seine Zeichnungen ans Bild und Spiegel
setzte. Das war dann schon beinahe ein Drama
in ihrem stillen, geordneten Leben, ei» Drama,
das mit Entsetzen begann und mit Totschlag
endigte.
Seit dem Ableben ihres Mannes hatte Tante
Lydia eben niemand außer ihrer eigene» hoch-
geschätzten Person, um den ihr rühriges Sor-
ge» kreisen konnte. Kinder waren nicht da
und Neffe Franz, das ivar auch so einer, der
diese doch so wohleingerichlete Welt leicht-
sinnigerweise ändern wollte. Sozialdemokralen
konnte Tante Lydia nicht ausstehen. Die wollen
bekanntlich teilen - das Kreisblatt sagte es! —,
aber dazu war Tante Lysia durchaus nicht
geneigt. Vaterlandsliebe halten sie auch nicht,
lind außerdem war einmal ein Maurer mit
Kalkstiefeln über ihren besten Teppich gegangen.
Also Gründe genug! Aber Neffe Franz liest
Tante Lydia reden, lobte ihre Kochkunst, än-
derte jedoch seine Weltanschauung nicht. Das
nannte Tante Lydia Undankbarkeit. Und so
ivar er denn bei ihr in Ungnade gefallen.
Dann kam der Krieg, und Franz mußte als
Reservist ins Feld rücken. Das Bewußtsein,
„auch einen draußen zu haben", erregte einen
gewissen Stolz im Busen der Tante. Außer-
dem machte sie gleich anderen naiven Ceit-
t.-u die urplötzliche Entdeckung, daß auch
Sozialdemokraten ihr Vaterland lieben und
sich als lebendige Schutzmauer vor die Hei-
inat stellen können, um den Einbruch feind-
licher Mächte abzuwehren. Das wandelte
den tantlichen Sinn, rmd sie schickte Liebes-
gaben nach Polen: Zigarren, Strümpfe,
Schokolade, Kniewärmer und viele schöne
Lehren.
Franzbedankte sich und schrieb: „O Tante
Lydia, hier wäre ein Feld für Dich und
Deine Tapferkeit! Die Gänse schlafen am
Ofen, die Schweine unter den Betten, und
die Hühner legen ihre Eier direkt in die
Pfanne. Die Spinnen sind so groß ivie
Spatzen, und die Fliegen leben hier nur
in ganzen Armeekorps zusammen. O wärst
Du hier!"
Ja, freilich. Sie wünschte es auch bei-
nahe; den» ihre Energie war ungebrochen.
Aber wenn sie von dem unerschöpflichen
Segen an Ungeziefer las, dann schüttelte
sie sich und sagte stolz: „Ich, die nicht
mal weist, wie ein Floh aussieht!"
Im Frühjahr hörte sie, daß die Sol-
daten abwechslungsweise Urlaub bekämen.
Da schrieb sie dem Neffen: „Ich habe Dir
Deinen Trotz verziehen. Eltern hast Du nicht
mehr. Ich aber bin Deine Tante und will auch
gern etwas fürs Vaterland tun. Wenn Du
also kommen kannst und willst: mein Haus steht
Dir offen. Nur das macheich zur Bedingung:
Bringe mir keine sechsbeinigen Russen mit!"
Franz antwortete: „Keine Sorge! Wir wer-
den vorher ausgekocht und desinfiziert!"
Im Mai kam er.
Tante Lydia konnte gewisse Herzbeklem-
mungen nur mit Mühe unterdrücken. Aber
sie ließ nichts davon merken, reichte Franz die
Fingerspitzen und deckte den Kaffeetisch in der
guten Stube, ja sie legte zu Ehren des Gastes
zum ersten Male die wunderschöne Decke auf,
die mit dem Abbild des Eisernen Kreuzes be-
stickt war, und Papierservietten dazu, die in
den Ecken gedruckte Lorbeerkränze und die
Aufschrift „Willkommen den Tapferen" trugen.
Sie gab sich liebenswürdig und leutselig
ei» wenig von oben herab, wie das einer wohl-
habenden Tante einem armen Neffen gegen-
über zukommt. Und während sie aßen und
tranken, verbreitete sie sich iiber die strategische
Lage und sagte, daß sie im allgemeinen mit
Hindenburg zufrieden wäre, aber an seiner
Stelle doch einiges anders gemacht hätte. Wor-
auf Franz erwiderte: „Dein Schinken ist vor-
trefflich; du hast ihn gewiß selbst gesalzen!"
Dazu nickte sie und meinte, den Sozialdemo.
traten stehe sie nun nicht mehr so feindlich
gegenüber. Wenn sie nun nur noch das „Tei-
len" abschwören und nicht mehr mit Kalkstic-
feln über gute Teppiche wandern ivollten, dann
könnte ihretwegen jeder denken, was er wolle.
Franz saß ans seinem Lehnstuhl, aß und trank
mit Behagen und schmunzelte zuweilen. Er
hatte die lärmende Musik der Granaten und
Schrapnells gehört, ohne daß ihm das Trommel-
fell geplatzt war, und dachte nun: am Ende
stirbt man auch nicht an einer Tantenrede.
Aus der Dreiverbcmdsküche.
Römische Punschtorte.
Frau Lydia war inzwischen von ihrem Tep-
pich auf den westlichen Kriegsschauplatz ge-
kommen und verbesserte die Maßnahmen des
Großen Generalstabs. Sie verzehrte zu einer
Tasse Kaffee hunderttausend Engländer und
sagte beim letzten Schluck: „Wir dürfen vor
nichts zurückscheuen, vor nichts!"
Darauf machte Franz eine Beivegung. Eine
nur! So, als wolle er sich den Rücken an der
Stuhllehne scheuern. Und nun wurde Tante
Lydia blaß und rief entsetzt: „Franz!"
Der sagte harmlos: „Was denn?"
„Junge, du hast doch nicht — ?!"
Er winkte gelassen: „Höchstens eine!"
„Was? Ist das nicht genug, um das ganze
Haus-"
„Nur keine Aufregung, Tante. Man muß
dem Feind mit Ruhe beikommen."
„Franz! Ich habe zur ausdrücklichen Be-
dingung gemacht, daß —!"
„Ja, ich weiß." Franz blickte seine Tante
tiefsinnig an: „Glaubst du, die Biester kehren
sich an Kontrakte?"
Da schrie Tante Lydia verzweifelt ans: „Das
in meinem Hause! Dagegen muß etwas ge-
schehen! Sofort! Ich laufe zum Drogisten!"
Sie war schon zur Tür hinaus.
Nun saß er da und lachte ausgiebig. Dann
beschloß er, spazieren zu gehen.
Inzwischen kam Frau Lydia mit einer großen
Tüte zurück und bestäubte zunächst den Sessel,
auf dem Franz gesessen hatte. Dann ging sic
in sein Schlafzimmer und wirkte dort mit Eifer,
verhaltener Entrüstung und Insektenpulver.
Als Franz am Abend nach Hause kam, sagte
sie mit bebender Stimme: „Du mußt schon
allein esse». Mir schmeckt es nicht."
„Aber Tante!" Er lachte und wollte reden.
„Kein Wort! Ich weiß, was ich tue!" . . .
Später hörte sie ihn andauernd in seiner
Kammer niesten. Dann schnarchte er.
Da schlich sie mit einem glühenden
Schwefelfaden hinein und zündete dort
etwas an.
Dann setzte sie sich vor die Kammertür
und horchte. Er sollte nicht ersticken. Nein,
das nicht. Aber sie konnte auch nicht mit
einem sechsbeinigen Russen im Hau.se
leben. Keine Nacht!
Am andern Morgen fand Franz seine
Tante schlafend auf dem Stuhl vor der
Tür seiner Kammer. Sie schrak auf: „Bis!
du schon wach?"
„Ja," sagte er mit heiserer Stimme. „Ich
habe einen scheußlichen Schnupfen. Und
die ganze Kammer stinkt nach Schwefel.
Aber was machst du denn hier?"
Da beichtete Tante Lydia. Dann kochte
sie den Morgenkaffee, und während sie
tranken, sagte Franz: „Es ist nur gut,
daß ich gestern abend das Fenster offen
ließ."
„Aber dann wirkt es ja nicht, Franz!"
Franz blickte gar merkwürdig bald si",
bald das Eiserne Kreuz auf der Tischdecke
an: „Wir wollen vor nichts zurückscheuen,
Tante. Wir sind ja tapfer, nicht wahr?...
Übrigens, die Laus ist tot. Um die Wahr-
heit zu sagen: ich glaube, daß sie nie ge-
lebt hat." Pan.