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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 32.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.8259#0179
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— 8735

für das Grab Bestimmte» gelegt — und ich
lebe doch!" Sein Gesicht trägt den Ausdruck
schweren Nachdenkens. „Warum bin ich über-
haupt hier? O, ich erinnere mich — ich wollte
das Grauen kennen lernen!"

Er wendet sich zu seinem Nachbar rechts.
Der liegt lang ausgestreckt, die Arme schlank
am Körper, wie er wohl bei der Parade ge-
standen haben mag. Da aber hatte er noch
einen Kopf. -Ein Mensch ohne Kopf aber ist
kein guter Anblick, selbst wenn der Halsstumpf
nicht so blutig wäre. Und er wendet den Blick
zu seinem Nachbar links. Der liegt zusammen-
gekrümmt, wie er wohl im Leben nie gelegen
haben kann. Brust und Leib wären ihm in
solcher Lage zu sehr im Wege gewesen. Nu»
hat er es leicht, mit den Knien am Kinn zu
liegen. Und der Mann neben jenem — alle
andern liegen doch mit den Füßen in der
Furche —, wo mag jener nur seine Beine hin-
gelegt haben? Sie liegen ivohl weit draußen,
ivo die schwarzen heulenden Vögel flogen und
mit schrecklichem Schrei über zusammenge-
duckten Häuptern zerbarsten-

lind weiter wandert der Blick des einsamen
Menschen, und was er sieht, das vertieft in
seinen Zügen den Ausdruck schweren Nach-
denkens immer mehr. O ja, er ist weit in der
Welt umher gewesen, um das Grauen zu er-
lernen — in der Luft, in den Bergwerken, auf
den Meere», auf dem Grunde des Meeres —
er hat es nicht gefunden. An die Schlacht aber
hatte er nicht gedacht.

So hat er nie in den vergangenen Tagen
über seiner Seele Seltsamkeiten nachgedacht,
wie jetzt über das, was rings um ihn war.
Und nebenbei denkt er immer daran, warum
man ihn wohl hierher gelegt habe. Er ist doch
in der Tat nicht tot. Ist er überhaupt ver-
wundet? Vielleicht. Hat er Schmerzen? Er
hat früher nie eine Krankheit erlitten, noch
einen Schmerz verspürt. Was er jetzt fühlt,
mußte wohl Schmerz sei». Er richtet sich ans.
Nun steht er. Zwar taumelt er, doch er kan»
gehen. Er erinnert sich, gelesen zu haben, daß
es in der Schlacht Tote gebe, die keine sicht-
bare Verwundung erlitten haben. Vielleicht ist
er einer von diesen. Vielleicht hat er irgendwo
eine Wunde, die er nicht fühlt, denn seine Klei-
dung ist starr von Blut. Auch fühlt er eine
Lähmung im ganzen Körper, die er früher nicht
gekannt hat. Und weil er keinen Schmerz ge-
kannt hat, ist ihm das Körperliche nie zum Be-
wußtsein gekommen. Jetzt aber fühlt er aufs
heftigste jedes einzelne Teilchen seines leben-
den Mechanismus.

Langsam schleppt er sich weiter. Doch da
— ganz dicht vor ihm — keine zehn Schritt
entfernt — hinter einem Ginsterstrauch — wahr-
haftig, dort liegt ein Soldat und richtet die
Flinte ans den Herankommenden. Wie ist sein
Gesicht so weiß im weißen Lichte des Mondes,
und seine Augen so starr — und sein Gesicht
so verzerrt!

„Ich bin nicht Euer Feind und habe keine
Waffe," spricht der einsame Wanderer in der
Sprache seines Volkes. Jener aber rührt sich
nicht und zielt ruhig weiter. Da wiederholt er
die Worte in der Sprache des Feindes. Jener
rührt sich nicht.

„Es wäre unlogisch und frevelhaft, wenn
Ihr mich töten würdet," spricht er und geht

auf jenen zu. Der liegt starr. Nun steht er neben
ihm..Doch wie seltsam, nun zielt der Regungs-
lose in die Luft. Langsam beugt sich der Lebende
zu dem Liegenden und berührt seine Schulter,
damit er wenigstens den Kopf zu ihm wenden
solle. Doch schnell richtet er sich wieder auf —
und seltsam, dem Menschen, an dessen Seele
die Dinge der Wirklichkeit spurlos abgeglitten
waren, fährt ein ungeheurer Schreck durch den
siechen Leib-—

Wie konnte nur jener Soldat so still liegen
und zielen, wo doch seine Seele längst allem
Haß und Kampf und Erdenlärm entrückt war!

Langsam schleppen die Füße den dnrchschau-
erten Körper des Menschen, der auf dieser nächt-
lichen Wanderung zum erstenmal seine Seele
fühlt, weiter. Und siehe, dort sitzt einer, mit
dem Rücken gegen einen Fels gelehnt. Er führt
gerade die Feldflasche zum Munde, doch auf
halbem Wege zögert die Hand, und der Kopf
des Mannes ist zur Seite geneigt, als lausche
er auf irgend etwas — auf einen Ruf, oder
auf ein fernes süßes Lied, oder ans ein Gebet,
das weit, iveit weg eine Mutter oder eine Gattin
oder ein Kind für seines Leibes Leben oder seiner
Seele eivige Ruhe beten mag.

„Ich werde ihn um einen Trunk aus seiner
Flasche bitten," spricht der Wanderer seufzend,
lind er spricht die Bitte aus. Doch jener lauscht
weiter. Da berührt der Dürstende die Hand
mit der Flasche — und die Flasche fällt zu
Boden. Die Hand aber, die eisige steife Hand,
beharrt in ihrer Haltung.

Da erkennt der Dürstende, daß dieser Mensch
nie wieder einen Tropfen an die erstarrten
Lippen führen werde, lind seine Zähne be-
ginnen zu klappern und kalter Schweiß tritt
auf seine Stirne. Und er, der nie bisher eine
Regung von jener Art verspürt hat, die an-
dern Menschen die Träne ins Auge zwingt,
beginnt zu weinen. Weinend setzt er seinen
Weg fort. Er will wandern, bis seines Leibes
letzte Kraft gebrochen sein würde.

Da steht auf weitem Feld einsam ein Baum.
Schwarz liegt sein Schatten auf dem von bläu-
lich-weißem Mondlicht überschleierten Feld. Als
aber der Mensch durch den Schatten schreitet
und auf die Lichtseite kommt, da sieht er, daß

an den Stamm des Baumes gelehnt ein Mann
steht, mit dein er in den vergangenen Tagen
manches Wort geivechselt hat. Jener hatte
kluge und tiefe Worte über die schweren und
inhaltreichen Dinge der Menschheit zu ihm ge-
redet — über Gott und Ewigkeit, über des
Menschen Würde, Pflichten und Ziele und
andere Fragen, über die Menschen, die unter
sich ewig uneins sind. Auch sie beide sind stets
uneins gewesen. Dennoch hat er jenem ernsten
und sanften Menschen sehr gerne zugehört. Er
hätte ihn wohl geliebt, wenn seine Seele eines
solchen Gefühls fähig gewesen wäre. Und nun
findet er ihn hier an dem Baume stehend, die
Hände zum Gebet gefaltet, das ernste schöne
Gesicht zu dem klaren Himmel emporgerichtet.

Der einsame Wanderer betrachtet ihn eine
Weile still von der Seite — und plötzlich wallt
in ihm ei» unaussprechliches Gefühl auf —
ivie eine gewaltige Welle, die alles, ivas bis-
her in ihm so öde und leer gewesen, ausfüllt
bis zum letzten Raum. Es ist eine gewaltige
Sehnsucht, mit diesem Manne beten zu können
zu irgendeiner Macht, die für die arme zer-
rissene und leidende Menschheit eine» Trost
bereit hat. Langsam tritt er an die Seite des
Betenden. „Freund, ich flehe Euch an, lehrt
mich ein einziges kleines Gebet, daß ich mit
Euch einstimmen kann in Worte, die in meiner
Seele das furchtbare Grauen niederringen."

Wie mußte jener Mann in seiner Andacht
vertieft sein, daß er dieses leidenschaftliche
Flehen so dicht an seiner Seite nicht vernimmt.
„Laßt mich nicht umsonst betteln, iveil ich Euch
immer widersprochen habe in den hellen Tagen
des Lebens! Jetzt ist die schrecklichste Nacht
des Todes — und alles in mir ist anders. O
Freund, mir graut — mir graut!"

Ein plötzliches Entsetzen vor seiner Einsam-
keit auf dem weiten Felde der Toten ergreift
ihn so sehr, daß er des betenden Mannes Hände
erfaßt, um ihn aus seiner Andacht aufzuwecken,
damit er mit ihm rede. Doch — das ist das
schrecklichste von allem, auch diese Hände sind
eisig kalt. Und starr ist das Gesicht und gläsern
die Augen, lind mitten auf der Stirn ist ein
kleines schwarzes Loch, aus dem ein schmaler
Blutstreif über das Gesicht gelaufen und auf
dein Wege erstarrt war. Und als der Mensch,
von furchtbarstem Entsetzen geschüttelt, die
starren Hände wieder losläßt, da fällt der Mann
zu Boden. Und nun liegt er auf dem Rücken
und reckt die betenden Hände immer noch empor,
und sein Gesicht, dieses entsetzlich starre weiße
Gesicht, verändert seinen beschwörenden Aus-
druck nicht.

Mit stieren Augen starrt der dem Reiche der
Toten Entwichene auf den einsamen Toten —
ei» gurgelnder Aufschrei zerreißt seine Brust —
dann bricht er zusammen und liegt zwischen
dem Stamm des Baumes und dem Manne,
mit dem er im Leben über die tiefen Dinge
der Menschheit gestritten hatte. — — —

Und als der Tag kommt und die Toten be-
stattet werden, da geht unter der Beerdigungs-
mannschast eine unheimliche Rede. „Die Toten
des Schlachtfeldes beginnen nachts zu wan-
dern —!" Denn viele von ihnen wissen, daß
sie den seltsamen Menschen, der ihnen schon
zu Lebzeiten ein Rätsel gewesen ist, am Abend
zu den Toten am Waldrand gelegt hatten-
 
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