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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 32.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.8259#0191
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8748

unten hinströmte, dem deutschen Lande, der
deutschen Küste zu. Eine orthodoxe Kirche mit
goldenen Kuppeln und dem Andreaskreuz und
eine römisch-katholische Kathedrale aus alter
Zeit spiegelten sich in ihr. Ihre Glocken schwie-
gen seit der Besetzung.

In groteskem Gegensatz zu ihrer blendenden
Pracht standen die kleinen winkligen armseligen
Häuschen ringsherum. Es war, als hätten die
beiden Kirchen — so feindlich sie einander auch
sonst waren — in dein einen Punkt überein-
gestimmt: alles Geld zum eigenen Schmuck an
sich zu ziehen und ihren Besuchern nur so viel
zu lassen, daß sie gerade noch vegetiere» konnten.

„An Schmutz scheint kein Mangel hier zu sein?"

Der Arzt lachte. „Da hätten Sie Herkommen
sollen, als wir den Ort besetzten. Alles starrte
vor Dreck: Gassen, Häuser, Fabrik, alles. Das
erste, was ivir taten, war säubern. Ich habe
selbst de» Besen geführt. Und dann wurde alles
desinfiziert. Wie sollte ich sonst hier Verwundete
unterbringe» können?"

Ein panrweißbehäubteSchwester» begrüßten
sie im Lazarett.

„Na, ist was passiert?"

„Nein, Herr Chefarzt. Bis auf Nummer 29."

„Ja, ein schlimmer Fall." Und im Weiter-
gehen erzählte er dem anderen die Tragödie
des jungen Schauspielers, eines Kriegsfrei-
willigen, dein an der Rawka eine russische Kugel
den Unterkiefer halb weggerissen hatte. „Er hat
alles geduldig ausgehalten, Schmerz und Ope-
ration. Aber als er die Bedeutung der Ver-
stümmelung begriff, die ihn seinem Beruf auf
immer entriß, war ein böses Fieber zuge-
schlagen, das ihm sehr geschadet hat. Die
Schwester da hat sich förmlich aufgeopfert;
sonst wäre er wohl doch draufgegangen."

Die Schwester wehrte mit bescheidenem
Lächeln ab.

Hinrichsen sagte leise: „Wäre es nicht besser
gewesen, man hätte den jungen Menschen sterben
lassen? Ein harmonisches Leben ist ihm ja doch
für immer unmöglich."

„Sie vergessen unsere Pflicht, mein Lieber,
auch wir Arzte kämpfen, und zwar einen nicht
minder schweren Kampf, gegen einen hart-
näckigen und bösartigen Gegner, den Kampf
gegen den Tod! Das dort sind unsere Waffen!"
Er wies auf die Schränke mit Instrumenten,
die Tragbahren, das Verbandszeug.

Sie traten an ein Bett.

„Na, wie geht's?"

Der Inhaber des Lagers schien von der Spree
zu sein. Er zwinkerte die Beiden lustig an:
„Ausgezeichnet, jetzt, wo ick doch wieder 'ne
Hausnummer habe!" Und er wies mit seiner
verbundenen Rechten nach der siebenundvierzig,
die mit Kreide auf der Tafel über seinem Bette
stand.

„So ist es recht," lachte der Arzt. „Und wann
gedenke» wir denn wieder 'rauszukommen?"

„Na, in acht Tagen wohl, wenn's auch noch
nicht zu Einbergs Tanzsalon langt!"

„Wir wollen sehen."

Sie gingen weiter.

„Der Mann ist mit acht Schüssen in Armen
und Beinen auf dem Schlachtfeld zwei Tage
in einem Gestrüpp liegen geblieben. Da ist er
erst von Sanitätshunden entdeckt worden. Ich
sehe ihn noch, wie er mit dem Lazarettzug an-
kam. Der Zug war bis auf ein paar kleine

Lichtstümpfe dunkel. Wir öffneten die Türe»
und sagten: „Wer gehen kann, soll aussteigen!"
Und da versuchte es auch dieser Mensch trotz
seiner durchschossenen Beine, gestützt auf zwei
Kameraden, auf eigenen Füßen ins Lazarett
zu kommen. Natürlich haben wir ihn gleich
auf eine Tragbahre gelegt, obwohl er immer
beteuerte, es ginge ihm gut, wir sollten nicht
so viele Umstände machen."

Die Essenszeit war da. Die Sanitäter holten
aus der Küche in Blechgefäßen das Essen und
stellten es auf die Tischchen am Bettrand. Wer
sich nicht aufrichten konnte, bekam es von einer
Schwester eingelöffelt.

„Gutes Essen und Schlafen — das sind auch
Waffen von uns."

„Sie haben wohl viel schöne Erfolge erzielt?"

Das Gesicht des Arztes leuchtet. „Sehr schöne!
Die Chirurgie hat in diesen: Kriege Groß-
artiges geleistet. Der Menschengeist ruht und
rastet eben nicht. Jetzt wollen wir aber auch
essen und dann will ich Ihnen mehr erzählen."

„Eine Stunde habe ich noch Zeit bis zur
Weiterfahrt."

„Das genügt. Da können Sie genug Respekt
vor den Ärzten und den Fortschritten der Wissen-
schaft kriegen," sagte der Arzt lachend.

Und dann zogen in seiner Erzählung allerlei
Einzelheiten dieses großen, andauernden,^un-
ermüdlichen Kleinkriegs gegen den Tod an Hin-
richsen vorüber. Er hörte von den vielen Mög-
lichkeiten der Schußverletzungen durch Jnfan-
teriegeschosse, Schrapnellkugeln, Granat- und
Bombensplitterund Fliegerpfeile, von den böse»
Zufällen der „Querschläger", wenn das Geschoß
nicht mit der Spitze, sondern mit der Seite auf-
schlägt, den „indirekten" Geschossen, wenn das
Geschoß Teile der Kleidung des Getroffenen
oder sonstige Fremdkörper in den Körper treibt
und hundert anderen.

Der Kampf des Arztes beginnt mit der Wohl-
tat der Morphiumeinspritzung, die den Schinerz
mildert. Dann kommt es auf die Untersuchung

Die Deutschen in Polen.

„Großartig, Brüderchen, disse Deutsche! Wohin man
trifft — iberall Entlausungsanstalten! Vielleicht ent-
ntkolaufen sie auch Rußland!"

der Wunde an: ist das Geschoß im Körper stecken
geblieben, ist es — was bei den modernen In-
fanteriegeschosscn die Regel ist — durchgeschla-
gen, hat es nur unwichtige Organe beschä-
digt, oder ist die Schlagader verletzt, oder sind
Knochen und Gelenke beschädigt? Tausend Fra-
gen stürmen anfdenUntersuchendenein, Fragen,
die schnell beantivortet sein wollen.

Schüsse in die Brust haben ihre Schrecken
verloren: die Belroffenen sind schon nach zehil
Tagen transportfähig. Bauchschüsse sind durch
absolute Ruhe und Enthaltsamkeit im Essen
heilbar. Schlimmer ist es bei Knochenverletz-
ungen. Da muß man oft Beinschienen aus Holz
und Stroh improvisieren und den Getroffenen
vor Erschütterungen bewahren, was auf de»
Leiterwagentransporteu nicht so einfach ist.

„Aber über alle Schwierigkeiten siegt der er-
finderische Menschengeist," fuhr der Arzt fort.
„Wir haben an einzelnen Betten nützliche Streck-
apparate angebracht, die die Verwundeten sich
selbst anfertigten. Wir haben künstliche Hände
erfunden, so sinnreich konstruiert, daß ihr Be-
sitzer daran Geräte wie Sensen oder Schaufeln
befestigen und diese wie ein Gesunder hand-
haben kann. Und die ärztliche Mechanik schafft
täglich Neues und Vollkomineneres."

Die Ordonnanz kan: und meldete, daß der
Zug bald iveiterfnhre. Die Beiden erhoben sich.

Bein: Erzählen hatte sich das Gesicht des
Arztes ständig mehr belebt. Seine Augen strahl-
ten vor Stolz: „Ist es nicht herrlich, daß man
das alles leisten kann, lieberHinrichsen? Denken
Sie nur, welche Unsumme von Scharfsinn, Nach-
denken, geistiger Arbeit nötig war, um dieses
Resultat zu erzielen! Müssen wir da nicht Re-
spekt vor dem Menschengeist bekommen?"

„Ich weiß nicht," sagte Hinrichsen zögernd
und durch einehalbgeöffnete Türe einenKranken-
saal überblickend. „Ich finde, der Respekt vor-
der unermüdlichen Arbeit des Menschengeistes
wäre noch viel berechtigter, wenn er es erst
zustande gebracht hätte, daß dies alles gar
nicht nötig iväre!!"

Verwundert blickte der Arzt ihn an. Aber
sein Händedruck beivies, daß auch er den Kainpf
der Zukunft um einen dauernden Frieden be-
griff und freudig begrüßte.

6s&

Nikolaus und die Front.

Ed e: Ob se woll dein Zaren bald wieder in-
laden werden, de siegreiche russesche Front zu
besuchen?

Lude: Woso denn nich? Der Mann muß
doch recht ville Verjniejen an diese Besuche
haben. In andere Länder fahren den Monar-
chen heechstens 'n paar Jeneräle zur Bejrießung
entjejen, aber in Rußland kommt immer jleich
de halbe Armee anjeloosen, wat doch sehr
schmeichelhaft for den Landesvater ist.

Ed e."Det stimmt, nn außerdem werden diese
Reisen for den Zaren immer bequemer un kirzer,
inden: Onkel Nikolajewitsch dafor sorjen tut,
det de Front von Tag zu Tage näher rickt.

Lude: Un wenn det mit die rickwärtsije
Dampfwalze noch 'n Weile so weiter jetzt, denn
braucht Nikolaus an: Ende ieberhaupt nich mehr
reisen, sondern kann seine siegreiche Armee schon
vor de Tore von Petrojrad kämpfen sehen.

Ede: Na, wird det 'n riehrendes Wieder-
sehen for Onkel un Neffe sind!
 
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